Manto and Madrigals

Werke von Rainer Killius, Giacinto Scelsi, Heinz Holliger, Béla Bartók, Nikos Skalkottas, Peter Maxwell Davies und Johannes Nied

Verlag/Label: ECM New Series 2150
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 78

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Ausschließlich Werke für Violine und Viola enthält die vorliegende CD-Neuveröffentlichung, und trotzdem langweilt man sich keine Sekunde, wenn man ihr ohne Unterbrechung zuhört. Denn das Repertoire an neuerer und neuester Musik, das der Geiger Thomas Zehetmair und die Bratscherin Ruth Killius hier eingespielt haben, bietet in seiner stilistischen Vielfalt Abwechslung genug.
Eröffnet wird die Stückfolge mit dem Arrangement einer altisländischen Melodie durch Rainer Killius, das mit seinen archaischen Quintklängen zeitweise an mittelalterliche Organa erinnert. Ein bordunartiger Effekt mit Tönen im Quintabstand ist auch für die folgende Komposition von Giacinto Scelsi tragend. Doch ist es hier die Viola allein, die in mehrstimmigem Spiel dieses Grundintervall mit Fluktuationen und mikrotonalen Abweichungen umspielt, wobei der Klang des Instruments zusätzlich durch das Höherstimmen von Saiten verfremdet ist. Ganz unerwartet tritt im dritten der Sätze zu den Bratschentönen die Stimme der Spielerin hinzu. Es ist, als ob die Titelfigur Manto, die antike Seherin, ihre Gesichte verbal artikulieren wollte, doch bleiben ihre gestammelten Laute nur ein dunkles Orakel.
Zu den direkt den beiden Interpreten gewidmeten Werken auf dieser CD gehören die Drei Skizzen von Heinz Holliger: Während sich die anfänglichen «Pirouettes harmoniques» in schwerelosen Flageoletts ergehen, folgt mit dem «Danse dense» ein nervöses Perpetuum mobile und mit dem «Cantique à six voix» ein ruhiger Schlussgesang, der ebenfalls die Menschenstimme, diesmal die beider Spieler, einbezieht.
Bei der Begegnung mit einem 1902 entstandenen Duo, eigentlich für zwei Violinen geschrieben, würde wohl kein Hörer auf Béla Bartók als Urheber tippen. In der Klangsprache typisch für Bartók ist diese gefällige G-Dur-Komposition nicht, aber sie erweist sich als vergnügliches Stück konstruktiver Kunst, bei der die zweite Stimme die kopfstehende und im Krebsgang gespielte Variante der ersten ist, wie sich an der Abbildung der Noten im Booklet nachvollziehen lässt. Eine weitere Rarität bietet die CD mit dem Duo von Nikos Skalkottas. In diesem knappen, aber wie eine dreiteilige Sonate angelegten Werk vermeint man Echos der expressiven Klangsprache von Skalkottas’ Lehrer Arnold Schönberg zu vernehmen.
Folkloristische Töne erklingen dagegen im Midhouse Air von Peter Maxwell Davies, der in dieser Komposition die Vokalmusik seiner Wahlheimat, der Orkney-Inseln zitiert. Verborgener bleiben die Volksmusik­anklänge in den Three Madrigals von Bohuslav Martinu°, die der tschechische Komponist 1947 im amerikanischen Exil schuf. Zwischen den tänzerischen Rahmensätzen ist im langsamen Mittelteil Martinu°s Sehnsucht nach der fernen Heimat zu spüren. Mit einer eingebauten Zugabe, die der Kontrabassist Johannes Neid den Interpreten widmete, endet die Werkfolge: es ist ein bockig-humoristisches Stück, in dem sich die beiden Instrumente um den Besitz des Tons gis zu streiten scheinen.
Gerhard Dietel