Stockhausen, Karlheinz

Mantra

Verlag/Label: hat[now]Art 190
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Mantra beschließt für Stockhausen eine fast zwanzigjährige, hochproduktive Phase des Suchens nach einer ureigenen kompositorischen Sprache. In den 1950er und 1960er Jahren entstanden unterschiedlichste Werke und Werktypen, von Raummusik (Gruppen, 1955–57) über Obertonmusik (Stimmung, 1968) und immer wieder Elektronik (etwa Studie I und II von 1953/54) bis hin zur Schaffung eines eigenen Improvisationstypus mit den Grundsätzen der «Intuitiven Musik». Die serielle Technik war dabei stets – wenn auch nicht vordergründig – präsent und spielte bei der Konstitution von Stockhausens Werken eine grundlegende Rol­le. Mit Mantra präsentierte er in Donaueschingen 1970 zum ersten Mal seine Weiterentwicklung des deterministischen Ansatzes in der «Formelkomposition», die gleichzeitig eine radikale Rückkehr zu diesem Prinzip und seine Transzendenz darstellt.
Eine Formel ist demnach der thematische Nukleus, aus dem sich alles musikalische Geschehen innerhalb des jeweiligen Werks ableitet. Wie bei der Serie auch ist jedes Ereignis innerhalb der Formel mit Tonhöhe, Rhythmus und Dynamik festgelegt, verfügt darüber hinaus aber noch über differenzierte Artikulationsangaben, Vorgaben zur Akzentuierung sowie gegebenenfalls periodische oder aperiodische Repetitionen, Triller und Tremoli. Motivische Arbeit findet nicht statt, stattdessen wird die Formel in verschiedenen Abwandlungen – Spiegelung, Umkehrung, Augmentation, Diminution, Ausschnitte etc. – zum Material der Komposition. Die größte Augmentation der Formel bildet die Gesamtstruktur des Werks ab, was in Mantra in einer Gliederung in 13 Sektionen resultiert, die den 13 Tönen der Formel entsprechen. Damit geht die Formel im Mantra auf und umgekehrt – radikalere Konsistenz ist kaum denkbar.
Bemerkenswert ist dabei die schie­re Diversität an Klängen, die Stockhausen durch dieses vermeintlich tro­cken-theoretische Dispositiv von den beiden Pianisten erzeugen lässt. Beide bedienen neben ihren Instrumenten einen chromatischen Satz Zimbeln sowie einen Holzblock, zusätzlich werden sämtliche an den Flügeln erzeugten Klänge durch einen Ringmodulator bearbeitet, der eben­falls mit der Grundlage der Formel operiert. Das von diesem relativ minimalen Setup freigelegte Klang­spek­­t­­rum reicht von diversen Formen harmonischer Verstärkung über galaktisch anmutende Effekte tief­frequenter Amplitudenmodulation, einer weiten Spanne von becken- und gong­ähnlichen Klängen, mikrotonalen Verstimmungen und Glissandi hin zu spektralen Farben. Die «Effekte» werden dabei zu integralen Charakteren des Werks und erscheinen mitunter als Varianten der 13 Artikulationstypen.
Die beiden Pianisten Mark Knoop und Roderick Chadwick bringen das Werk auf der vorliegenden Aufnahme mustergültig zu Gehör. Die Aufnahmen entstanden im Januar 2013 in der Hall Two des Londoner Kings Place; den Instrumentalisten stand der Tontechniker Newton Arm­strong zur Seite, der auch für die Bedienung sämtlichen elektronischen Equipments verantwortlich zeichnet.
Patrick Klingenschmitt