Tadday, Ulrich (Hg.)

Mark Andre

(= Musik-Konzepte 167)

Verlag/Label: edition text + kritik, München 2015, 114 Seiten, 26 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 85
«Nachdenklich, ohne Emphase». Mit diesem Vermerk in der Partitur von Mark Andres Musiktheaterwerk wunderzaichen ließe sich auch das Fotoporträt des Komponisten auf dem Umschlag beschreiben, das, wäre es gemalt, aus der Bilderwelt von Rudolf Hausner stammen könnte, dem Archäologen des Unbewussten. Für den Leser komplettieren das asketische Konterfei und der mehr nach innen als ins Offene gerichtete Blick das «Nachdenken über Mark Andre» in der gleichnamigen Laudatio von Helmut Lachenmann und in den Annäherungen, mit denen Jörn Peter Hiekel, Lydia Jeschke und Martin Zenck den Zugang zu einem höchst originären Musikdenken und dem daraus resultierenden ebenso komplexen wie faszinierenden kompositorischen Schaffen suchen. 
Ihre Texte sind gleichsam eine Einladung zur Begegnung und Auseinandersetzung mit einem ganz und gar Eigenen im Wimmelbuch der Neuen Musik. Die Quelle seines Eigensinns darf man nach seinem Lehrer Lachenmann in einer gewissen «kriminellen Energie» vermuten, mit der der gläubige Protestant Mark Andre «die kreativ motivierte Sabotage an welchem geltenden ästhetischen Kodex auch immer» betreibt, um zu einer «Expressivität der Klän­ge» zu finden, die visionär «von sich weg auf eine andere Realität» weist. Es ist die Transzendenz. Andre beschwört sie, wenn er etwa als das Ziel der Elektronik den Versuch nennt, «den zarten, zerbrechlichen, tröstenden Atem des Heiligen Geistes […] erlebbar zu machen». Es ist andererseits das Wissen um die Instabilität des Glaubens und die Ungewissheit als zentrale Kategorie der mensch­lichen Verfasstheit, das Begriffe wie «Zwischenraum», «Schwelle» und «Übergang» zum Grundbestand seiner Kompositionsästhetik werden ließ. So hat es gute Gründe, dass das «‹Dazwischensein› des kompositorischen Denkens und Handelns von Mark Andre im Fokus dieses Heftes» steht (Ulrich Tadday). 
Jörn Peter Hiekel («Resonanzen des Nichtevidenten») spürt ihm in der Oper wunderzaichen nach, die das Anliegen des Humanisten Johannes Reuchlin (die Vermittlung zwischen Christen, Juden und Muslimen) eben­so artikuliert wie das fragile Zwischendasein des Menschen als eine conditio humana. Mark Andre («Die Klang-Zeitfamilien und kompositorischen Zwischenräume in üg für Ensemble und Elektronik») wünscht sich, «dass der kompositorische Übergang und metaphysische Zwischenraum in üg zur zarten und zerbrechlichen Präsenz des Heiligen Geistes würden … So Gott will.» 
Lydia Jeschke geht der Frage nach, wie und mit welchen Mitteln sich Andres Denken des Dazwischenseins in Werken wie ab II, hij 2 und üg niedergeschlagen hat, während Martin Zenck in weitausholendem interdisziplinärem Zugriff das Ensemblestück riss (2014) «mit Blick und Ohr auf Beethovens Op. 131» verortet. – Coda: Helmut Lachenmann erlebt Mark Andres «schutzlos intensive Musik als etwas zugleich irgendwie Vertrautes und doch total Fremdes» und er schaut ihr zu «wie einer nicht untergehenden Nussschale auf dem Meer der alltäglichen Reizüberflutungen». Vielleicht erkennen wir in der kleinen Nussschale irgendwann einmal eine zweite Arche Noah, in der bewahrt ist, was wir schon längst verloren glaubten.
Peter Becker