Mitterer, Wolfgang

massacre

«what times are these what times are these»

Verlag/Label: col legno WWE 1 CD 20294
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Als bei den Wiener Festwochen 2003 Wolfgang Mitterers Oper massacre uraufgeführt wurde, ein Werk jenseits von Besetzungsstandards, notiert für fünf Sänger, neun Instrumente und Elektronik, ein Werk, in dem die tradierten Formen bis zur Unkenntlichkeit geschreddert und doch als Idee präsent sind, ein Werk, in dem das Ohr mit enormer Energie zum Sehen und Fühlen gedrängt wird, da suchten die Rezensenten blass vor Verblüffung und Begeisterung nach Begriffen, um ihr intellektuelles Gleichgewicht wiederzuerlangen. Adjektiv-Schlachten wurden geschlagen bei dem Versuch, adäquat zu beschreiben, und über ein «postdramatisches Hörtheater» wurde sinniert. Jetzt liegt der Mitschnitt einer Aufführung vom 9. Oktober 2008 am Théâtre de Saint-Quentin-en-Yvelines (Frankreich) als CD vor und man versteht die Not der Uraufführungsrezensenten, die Wirkung dieses Werks irgend in Worte zu fassen, mussten sie doch zu dieser berserkerhaft grausig-schönen, zutiefst aufrührerisch-berührenden Musik auch noch die visuelle Rezeptionsebene verkraften.
Literarische Vorlage für Mitterer und seinen Ko-Librettisten Stephan Müller war die fragmentarisch überlieferte Tragödie The Massacre at Paris von Christopher Marlowe, die erstmals im Januar 1592 aufgeführt wurde. Das Stück beschreibt die politische Situation Frankreichs im ausgehenden 16. Jahrhundert, die in der so genannten Bartholomäusnacht oder auch «Bluthochzeit von Paris» am 24. August 1572 kulminierte. In jener Nacht wurden tausende Hugenotten in Paris auf Befehl der katholischen Regentin Katharina von Medici im Namen von Karl IX., König von Frankreich, ermordet, wenige Tage nach der Heirat des Protestanten Heinrich von Navarra mit der Schwester König Karls, die der Aussöhnung zwischen den Konfessionen dienen sollte.
Mitterer und Müller haben das Marlow’sche Textbuch auf seine Essenz reduziert, haben Worte in Stücke geschnitten, um sie von den Protagonisten stammelnd vor Wut, Rache oder Entsetzen sing-sprechend wieder zusammensetzen zu lassen zu einem Pan­optikum menschlicher Abgründe und Hoffnungen. Das Protagonisten-Set entspricht der dramatischen resp. der historischen Vorlage. Dieses Personal, bestehend aus Catherine de Medici, der Queen of Navarre, dem Duchess of Guise, dem Duke of Guise, Henry III., dem King of Navarre, sowie namenlosen Repräsentanten der hugenottischen Pariser Bevölkerung, wird im Libretto mit Initialen benannt, denn das Personal und die Ereignisse der Bartholomäusnacht sollen, so die Intention Mitterers, lediglich die Folie abgeben für zeitlos Allgegenwärtiges. Jede der 18 Sequenzen von massacre – in denen Mitterer Myriaden von Zitat­splittern aus Opern und Motetten, darunter das vierzigstimmige «Spem in alium» von Thomas Tallis, in einem aufgeheizten madrigalesken Tonfall amalgiert und kunstvoll-krude mit gesampelten Geräuschen des Alltags so­wie mit Tiergeräuschen konfrontiert, die Stimmen oft elektronisch vervielfältigt und sie so in ein akustisches Zerrspiegelkabinett verfrachtet – lässt sich als Beispiel einer neuen, einer theatralischen Polyphonie begreifen. Der vorliegende Mitschnitt ist schlicht maßstabsetzend.

Annette Eckerle