Tadday, Ulrich (Hg.)

Mathias Spahlinger

Musik-Konzepte 155

Verlag/Label: edition text + kritik, München 2012, 142 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 92

«Niemand kann widerlegen, dass Anton Weberns Quartett op. 22 zum Fall der Mauer beigetragen hat.» Was für eine Volte, mit der Johannes Kreidler (S. 23) den furor utopicus und damit die Kompositionsästhetik Mathias Spahlingers in nuce eingefangen hat! Die Rede ist vom Denken in und über Musik vor der Folie des Widerspruchs zwischen künstlerischer und politischer Integrität, ein Widerspruch, der nicht aufzulösen ist, den der fantasievolle Skeptiker aber – und das ist gleichsam der rote Faden in Spahlingers Œuvre – klingend thematisiert, um ihn ins Bewusstsein zu heben.
An diesem Faden wird der Leser durch die Texte geführt, die von nichts Geringerem handeln als vom Credo eines Unangepassten, eines Querständigen, eines provokanten Außenseiters, der dem faulen Frieden zwischen der Kunst und der Welt nicht traut. Und woran glaubt so einer? Daran, dass unsere Welt – frei nach Hegel – unter Aufbietung aller Kräfte verändert werden kann, und daran, dass gerade in der fragilsten aller Künste, der Musik, solche Kräfte wirksam sind, «zaghaft wie die Hoffnung, es könnte einmal noch gut werden» (Adorno).
Es gehört zur inneren Dramaturgie des vorliegenden Bandes, dass jeder der sieben Beiträge dieses utopische Plus zum Gegenstand hat und es zugleich mit dem Zweifel an seinem Gelingen, mit seiner ständigen Gefährdung konfrontiert. Dorothea Ruthemeier geht ausgewählten philosophischen Aspekten der Musikästhetik Spahlingers nach, zu denen angesichts der Vielfalt gleichberechtigter Wirklichkeiten und Weltsichten nicht zuletzt die Frage gehöre, «wie damit umgegangen werde, dass es keinen Sinn mehr gebe». Auch Tobias Eduard Schick knüpft an die Vermessung der Welt bei Spahlinger an, die sich hier im zentralen Topos der Lebenswelt verdichtet, auf die seine Musik mit Aufbau und Zersetzung von Ordnungen reagiert.
Um das Problem des Welthungers geht es in der Komposition in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten für Chorgruppen und Playback (1985), auf deren ethische und medienreflexive Implikationen Marion Saxer abhebt. Für Johannes Kreidler ist Weltimmanenz der Leitbegriff, um die politischen «Zumutungen» der Ästhetik und Musik Spahlingers zu reflektieren, während sich Rainer Nonnenmann Kompositionen, die in den Jahren zwischen 1975 und 2009 entstanden (insbesondere doppelt bejaht, Etüden für Orchester [2009]) analysierend und interpretierend unter der Maßgabe der Werkimmanenz widmet.
Sebastian Claren erkennt in dem ins Extrem getriebenen Gegensatz zwischen rationaler Konstruktion und expressivem Resultat in und als wir für 54 Streicher ein gewissermaßen didaktisches Moment, das dem Hörer den schmalen Grat zwischen Wahrnehmung und «Falschnehmung» vor Ohren führt. Dass Spahlinger eine Vorliebe für «die Dinge dazwischen» hegt, beglaubigt sein musikästhetisches Credo nachdrücklich. Jürgen Mainka hat diese Vorliebe seines Lehrers in der Spannung zweier Verfahrensweisen (Auslassung und Prozess) am Beispiel der Vier Stücke für Stimme, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1975) höchst plausibel elaboriert.
Summa: Schwer vorstellbar, dass Mathias Spahlinger – ein Geistesverwandter von Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Helmut Lachenmann – triftiger, kompetenter und inspirierter porträtiert werden könnte als in diesem vorzüglich edierten Band. Ein Glücksfall!

Peter Becker