Kassel, Matthias (Hg.)

Mauricio Kagel – Zwei-Mann-Orchester

Essays und Dokumente | Eine Publikation der Paul Sacher Stiftung, 135 Seiten

Verlag/Label: Schwabe, Basel 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 84

Die sozialen Bedingungen des Musikmachens hat Mauricio Kagel so geistreich wie erfinderisch auf den Prüfstand gestellt. Eine der spektakulärsten Versuchsanordnungen seiner ironisch-analytischen Auseinandersetzung mit dem Metier war das Zwei-Mann-Orchester, ein Musik-Monstrum mit dem Charme einer Rumpelkammer, das nach dem Willen seines Architekten für jeden «Auftritt» neu erfunden werden muss. «Dem Andenken einer Institution gewidmet, die im Begriffe ist, auszusterben», schrieb Kagel provokant über seinen Kompositionsauftrag des Südwestfunks Baden-Baden.
2011 begannen Wilhelm Bruck und Matthias Würsch ihr Sammelsurium maroder Klangerzeuger neu zu verdrahten und nahmen nach über zwanzig Jahren im Basler Museum Tinguely die sperrige Bastelstube wieder in Betrieb. Anlass genug für eine umfassende Dokumentation, die Geschichte und Geist von Kagels Donaueschinger Orchesterdestruktion von 1973 visuell ansprechend nahebringt.
Herausgeber Matthias Kassel, Kurator der Sammlung Mauricio Kagel bei der Paul Sacher Stiftung Basel, legt eine großzügig und charmant bebilderte «Werk-Monografie» mit teilweise unveröffentlichtem Quellenmaterial vor. Dass Kagels komplexe Musik-Maschinerie weit mehr ist als ein spaßiges Fluxus-Kuriosum, verdeutlichen fast alle Essays aus verschiedensten Perspektiven. Matthias Kassel verortet das Zwei-Mann-Orchester eloquent im Umfeld des «Instrumentalen Theaters» und seines erweiterten Klangbegriffs, den er hier vor allem als «Instrumententheater» realisiert sieht. Michael Kunkel, Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung der Hochschule für Musik Basel, erörtert im anregendsten Beitrag dieses Bandes vor allem die ambivalente Rolle der Spieler und macht die scheinbaren Widersprüche von Verantwortung und Funktionalisierung als Kern der Konzeption dingfest.
Gleich drei Texte haben sich «musealen» Aspekten des Kagel’schen Instrumentariums verschrieben. Martin Kirnbauer denkt als Direktor des Basler Musikmuseums (das seit 2005 mehr als 650 Kagel-Objekte beherbergt!) über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Komponistenausstellungen nach und gibt einen Abriss über bisherige Versuche, Kagel und sein Werk auszustellen. Onno Mensing vom Gemeentemuseum Den Haag erzählt die Geschichte der dort befindlichen Donaueschinger Uraufführungsapparatur. Andres Pardey, Vizedirektor des Museums Tinguely, nimmt Klang, Zufall und Bewegung als zentrale Elemente der Kunst von Tinguely, Nicolas Schöffer und Wolf Vostell in den Blick.
Es ist schade, dass die inzwischen dritte Realisation des Zwei-Mann-Orchesters unter Beteiligung von Wilhelm Bruck hier nur am Rande auftaucht, was am Ende doch einigermaßen überrascht. Grund: Die Erarbeitung des Stücks war bei Drucklegung der Pub­likation noch nicht abgeschlossen. Dennoch hätte man die Ausführenden auch im Vorfeld ausführlicher zu Wort kommen lassen können, ja müssen. Schließlich zog Wilhelm Bruck schon bei der Uraufführung die Strippen. Dass dies aber nur einen kleinen Wermutstropfen dieser schönen Publikation darstellt, ist nicht zuletzt den Studierenden des Kunstinstituts der Basler Hochschule für Gestaltung zu verdanken. Sie haben Arbeitsprozess und Aufführung in eindringlichen Bildern auf DVD dokumentiert (ebenfalls bei Schwabe erschienen).

Dirk Wieschollek