Valeri Scherstjanoi

Mein Futurismus

Mit einem Nachwort von Michael Lentz

Verlag/Label: Matthes & Seitz, Berlin 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 92

«Sein» Futurismus begann 1967, als er die letzte Klasse der sowjetischen allgemeinen polytechnischen Oberschule besuchte, und – selbstverständlich – war es ein Name (und eine Sprach-Kunst), die ihn damals in Bann zu setzen vermochte. So las er, der 1950 in Kasachstan geboren wurde, Majakow­ski-Gedichte, zunächst im Unterricht, dann immer öfter auch privat – was er seinem Vater zu verdanken hatte –, nahm sich vielleicht ein Beispiel, nahm diese aber in jedem Fall ernst. Es folgte ein Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft, die Übersiedlung in die DDR und schließlich ein Leben als Künstler, als freier Lautdichter, Hörspielautor und, wie es heißt, «Schöpfer lautpoetischer Notationen (scribentische Blätter)».
Als Extrakt dieses Lebens ist jetzt ein Buch in einem der interessantesten, weil ambitioniertesten Publikumsverlage erschienen, das die Beziehung zum bzw. das Dasein von Valeri Scherstjanoi im Futurismus mit zahlreichen Textversionen dokumentiert: Dichtungen, die einem größeren Publikum fast unbekannt sein dürften und gerade deshalb zu entdecken sind.
Kaum zufällig beginnt der Band mit einem Kapitel, das einen treffenden Titel trägt und so etwas wie eine Mini-Autobiografie, mithin auch eine Mini-Poetik Scherstjanois präsentiert: «Liebes Deutschland, ich lebe seit 30 Jahren in dir, mit dir. […] Ich hätte früher nie daran gedacht, dass ich in deiner Sprache schreiben werde. In deiner Sprache mich scheiden lassen werde oder neu verlieben.» Dennoch bleiben hier die Leidenschaften, die Prägungen (vor allem die künstlerischen) seiner alten Heimat stets transparent; einzelne Kapitel sind denn auch wiederum Majakowski, aber auch etwa Daniil Charms, Kandinsky, Marinetti, Chlebnikov, Kurt Schwitters und Carlfriedrich Claus in unterschied­lichen Variationen gewidmet. Und: die sie umgebenden und von ihnen geprägten avantgardistischen Strömungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden dabei spielerisch und mit stilistischem Feingefühl ebenfalls por­trätiert. Daher fehlt auch nicht ein Kapitel zu Programm bzw. Program­matik bzw. zur Theorie der Lautpoesie. Darin zeigt sich Scherstjanoi erneut als großer Kenner «seiner» – insbesondere futuristischen – Tradition und zudem als versierter Aphoristiker wie gleichsam als «Manifestationist»: «[…] Poesie aus puren Lauten oder Sprachlauten, Mundartistik, / mein Niemandsland, / ohne Staaten und Grenzen, / zwischen zwei Sprachen und Kulturen, / zwischen Russland und Deutschland.»
Erfreulich und überaus begrüßenswert hat dazu, um den doch nur Eingeweihten wirklich vertrauten Scherst­janoi näher vorzustellen, sein Werk zu kontextualisieren und seine Bedeutung als «letzten Futuristen» zu unterstreichen, der Schriftsteller und Lautpoesieforscher Michael Lentz einen Essay als Nachwort zum vorliegenden Buch beigesteuert; er beeindruckt durch Feinsinn für die Kreuzungen und Verwicklungen der Avantgarde, zwischen denen Scherstjanois Produktion wie Rezeption heute steht, für die, wie Lentz schreibt, «künstlerischen Fixsterne, um die [dessen] eigenes System beständig kreist».

Oliver Ruf