Reimann, Aribert

Melusine

Verlag/Label: Wergo WER 67192
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Melusine, im April 1971 in Schwetzingen uraufgeführt, ist Aribert Reimanns zweite Oper. Sie hat sich im Laufe der Jahrzehnte als ausgesprochen erfolgreich erwiesen: Bei der Inszenierung am Staatstheater Nürnberg 2007 – vorliegende Doppel-CD präsentiert den Live-Mitschnitt der Premiere – handelt es sich bereits um die 14. Inszenierung des vieraktigen Werks. Viele Dichter der letzten Jahrhunderte haben sich des Stoffs um das elfenhafte Zauberwesen Melusine angenommen, darunter Goethe und Grillparzer. Reimanns Librettist Claus Henneberg orientierte sich indes an einem 1922 aus der Taufe gehobenen Schauspiel Yvan Golls.
Auch bei Reimann/Henneberg entstammt die Protagonistin dem Elfenreich. Jungfräulich lebt sie in Ehe mit einem ungeliebten Mann; ihr wahres Leben lebt sie in einem verwunschenen Park. Als dieser durch ein Bauvorhaben zerstört zu werden droht, setzt Melusine ihre Verführungskräfte ein, um die an dem Projekt beteiligten Männer davon abzubringen; jedem davon bringt sie Verderben. Lediglich in den Grafen, der das Schloss auf dem Grundstück des Parks in Auftrag gegeben hat, verliebt sie sich. Durch die Liebe wird sie zum Menschen, zerstört aber dadurch sowohl den Grafen als auch sich selbst.
Das Sujet der Zerstörung der Natur durch den Menschen ist heute aktueller denn je. Wichtiger für den an dieser Oper Interessierten dürfte jedoch sein, dass Reimann bereits in jungen Jahren ein Komponist war,
der höchst individuell und, bei aller Modernität, äußerst dankbar für die Stimme zu schreiben wusste. In der Figur der Melusine verschmelzen Cha­rakterzüge der Melisande und der Lulu, und diese beiden Pole sind es auch, um die Reimanns Musik kreist: einerseits eine Art Spät-Expressionismus, andererseits impressionistisch anmutende, pastellhafte klangfarbliche Wirkungen.
Die enorm fordernde Partie mit ihren – vor allem in den ersten Akten – verschlungenen, gläsern anmutenden Koloraturen findet in der Sopranistin Marlene Mild eine beeindruckende Interpretin. Besonders berührend gelingt ihr, im Duett mit dem Grafen (mit warmem, sonoren Bariton gesungen von Song-Hu Liu) die Wandlung vom Naturwesen zum Menschen aufzuzeigen: Die Koloraturen verlieren das Artifizielle, gewinnen lebendige Farbe. Dieses Duett markiert den emotionalen Höhepunkt der Oper – auch in der orchestralen Begleitung, wenn das schlangenhaft kreatürliche Gewusel der Streicher und Holzbläser, das über weite Strecken die Partitur prägt, zur Ruhe kommt. Auch der Rest des Sängerensembles weiß zu überzeugen, und nicht zuletzt erweisen sich die Nürnberger Philharmoniker unter der Leitung des avantgarde-erfahrenen Peter Hirsch als ideale Sachwalter von Reimanns noch immer faszinierender früher Oper.

Thomas Schulz