Frey, Jürg

Mémoire, Horizon | Extended Circular Music | Architektur der Empfindung

Verlag/Label: Musiques Suisses MGB CTS-M 144
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 78

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Drei Werke jüngeren Entstehungsdatums sind auf der Porträt-CD des Schweizer Komponisten Jürg Frey vereint: zwei einsätzige Stücke, komponiert als große Bögen, und ein mehrsätziges, das die Musik in wechselnden Kleinbesetzungen jeweils einige Minuten lang beleuchtet. Ein großer Bogen spannt sich auch musikalisch-inhaltlich über alle drei Werke. Sie sind reduziert im Tonmaterial, reduziert in der Aktivität und der Dynamik.
Jürg Frey, Mitglied des Wandelweiser-Kollektivs, ist ein Lau­schender, ein Suchender, ein Fragender. Komponisten wie Morton Feldman, Cornelius Cardew oder Howard Skempton waren es einst, die ihn zu seinem kompositorischen Weg inspiriert hatten. Wodurch zeichnet sich das Tempo eines Stücks aus, wenn man die Metronomzahl beiseite lässt? Wie verläuft Zeit, wie wird sie wahrgenommen? Wann erscheint Musik im Fluss, wann statisch? All dies sind Fragen, die Frey sich beim Komponieren immer wieder stellt und die sich auch den Hörenden stellen, wenn sie seiner Mu­sik lauschen.
Mémoire, horizon (2013/14) für Saxofonquartett dauert eine gute hal­­be Stunde. Liegende Klänge, ein ruhig dahinschreitendes Klangband nicht immer gleicher Breite. Mehrklänge wechseln mit nah beieinander liegenden Reibeklängen. Es entstehen Interferenzen, aber auch ein großer klangfarblicher Nuancenreichtum durch die wechselnden Instrumente und Griffverbindungen, durch Zusammenklänge und minimale Dynamikschwankungen. Basis des gesamten Werks bildet eine große Sekunde.
Größere Kontraste bestimmen die sieben Sätze des Zyklus Extended Cir­­cular Music, komponiert 2011 und 2014. In wechselnder solistischer bzw. kammermusikalischer Besetzung scheint die Musik hier tatsächlich in sich zu kreisen. Das Prinzip des Kanons ist zu erahnen, mal entfernt, dann deutlicher. Akkordfortschreitungen, oft in Kadenzen geführt, bestimmen einen großen Teil der Musik. Kontrastiert wird der Schein der Kadenzentwicklung durch gleichen Anschlag bzw. Anblasklang, also die Nicht-Änderung eines anderen Parameters, der sich der Dramaturgie der Harmonik nicht unterordnet. In einigen Sätzen fehlt eine Reibung, bricht kein Kontrast den schönen Klang, den Komponierende, nicht nur der Minimal music, allzu oft neu zu beleuchten versucht ha­ben – auch wenn es längst nicht so simpel zugeht und das Voraushören des nächsten Akkords meist nicht so eindeutig möglich ist.
Das dritte Werk dieser CD, Architektur der Empfindungen aus den Jahren 2011/2012, ist ebenfalls über weite Strecken von großer Ruhe geprägt. Kleine Bewegungen, Repetitionen werden unterbrochen durch einzeln gespielte Töne oder Mehrklänge. Scheinbar Bewegtes wirkt statisch, scheinbar stehende Klänge erwecken den Anschein fortzuschreiten, ziellos, in einen offenen Raum. Auch hier bildet ein Kanon den Rahmen. Doch welchen Stellenwert nimmt er ein oder muss er einnehmen beim Hören, um der Musik wahrnehmend gerecht zu werden? Offene Fragen sind es, die die Musik und ihren Komponisten Jürg Frey beschäftigen, keine eindeutigen Antworten.
Nina Polaschegg