Michael Nyman – Composer in Progress / In Concert

Filmporträt von Silvia Beck und Konzertaufzeichnung mit der Michael Nyman Band

Verlag/Label: Arthaus 101526
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 82

Sympathischer Minimalist: Michael Nyman


Der 1944 in London geborene Michael Ny­man ist ein Grenzgänger und bewegte sich immer zwischen den musikalischen Kategorien. Weltweit bekannt wurde er mit seiner Musik für die Filme von Peter Green­away und für Jane Campions The Piano, doch er trieb sich in den 1960er Jahren auch bei der atonalen Avantgarde herum, schrieb ein Libretto für Harrison Birtwistle, gründete 1976 die «lauteste, elektronisch unverstärkte Straßenband», die «Campiello Band», mit alten und modernen Instrumenten – wohl eine Art Vorläufer des Frankfurter «Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters» – und gilt als derjenige, der den Terminus «Minimal music» geprägt hat. Seine ästhetischen Auffassungen legte er in seiner Schrift Experimental Music: Cage and Beyond dar. Außerdem trat er als Fotograf und Videokünstler in Erscheinung. Ein typisch britischer Allrounder und Querfeldeinkünst­ler, der keine Angst davor hat, sich zwischen die Stühle zu setzen und der über die negativen Etikettierungen, die er aus dem Lager der neuen Musik erfahren hat, locker hinwegschauen kann. Sein Erfolg beim breiten Publikum erspart ihm die Unterwerfungsrituale unter Musikkontrolleure jeglicher Art.
Eine Doppel-DVD stellt Nyman nun mit einem Filmporträt und einem Konzert vor, das 2009 in Halle an der Saale aufgezeichnet und von Oliver Becker für die DVD produziert wurde. Die zwölfköpfige, mit konzentrierter Routine auftretende Michael Nyman Band mit dem Komponisten am Klavier ist ein Zwischending zwischen Big Band und Kammerorchester. Der Sound ist kompakt und blechbläserlastig, die vier Streicher spielen über weite Strecken nichts als die berüchtigte Bratschenbegleitung. Die Kompositionen verraten mit ihren block­artigen tonalen Harmonien und repetitiven Mustern die minimalistische Vergangenheit Nymans. Der Bigband-Charakter suggeriert den Wechsel von Tutti und Soli, doch es wird streng und immer gleich laut im Kollektiv durchmusiziert. Die Stücke, die skurrile, leicht ironische Titel tragen wie Musicologist Scores oder Prawn Watching (Krabben beobachten), verweisen in der Art des alten Neoklassizismus auf die Musik vergangener Epochen. Zumal Händel schimmert immer wieder durch, nicht nur weil er bis heute der unbestrittene musikalische Heros der Briten ist, sondern auch weil die kompakte Rhythmik seines Orchestersatzes für Nyman offensichtlich ein Vorbild darstellt. Nymans Musik tut weder geheimnisvoll noch überambitioniert und spricht unmittelbar an, doch kann der Ges­tus des Geradeaus-Musizierens trotz abwechslungsreicher Stückfolge auf Dauer etwas ermüdend wirken. Pfundig klingt’s aber trotzdem, nicht zuletzt dank der Kombination von Sax und Blechbläsern.
Im Filmporträt von Silvia Beck zeigt sich Nyman als entspannter und zuvorkommender Gesprächspartner, der bereitwillig über seinen Werdegang, seine Zusammenarbeit mit Peter Greenaway und viele andere Themen spricht. Er hat das, was man eine menschliche Ausstrahlung nennt. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Filmautorin, die ihn auf ungekünstelte Weise in den lebendigen Alltag hineinzustellen versteht. Eine Passage zeigt ihn in der polnischen Eisenbahn auf der Reise nach Tschenstochau, wo seine Großeltern geboren wurden, die 1905 nach London auswanderten; aus den Akten, die er dort in einem Archiv zu sehen bekommt, entsteht ein Stück lebendige Geschichte. Ein Blick in seine Komponistenwerkstatt wird ergänzt mit einer Klangmontage, in der seine Komposition in Re Don Giovanni mit dem Gesangspart des Leporello aus der Registerarie überblendet wird: Es passt genau. Zum charakteristischen, stets gleich lauten Kompaktklang von Nymans Musik gibt der Saxofonist eine plausible Erklärung aus Interpretensicht: «Auf der Bühne fühle ich ein ganz starkes Gruppengefühl, gerade wenn es sehr laut ist und alle miteinander im Einklang sind. Würde man als Einzelner weniger intensiv spielen, ließe man den Klang der ganzen Band im Stich. Man kann sich nicht verstecken.» Wie man mit Nymans Kraftästhetik im Film umzugehen hat, wo in der Musik in der Regel Diskretion und Hintergrundwirkungen angesagt sind, kommentiert Volker Schlöndorff, für den Nyman die Musik zu The Ogre (Der Unhold) schrieb: «Wenn ich die Musik hören darf und will, dann kann es auch Musik von Nyman sein. Denn Musik von Nyman kann man nicht einfach so dem Zuschauer unterjubeln.»

Max Nyffeler