Pätzold, Cordula / Caspar Johannes Walter (Hg.)

Mikrotonalität – Praxis und Utopie

(= Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften, Band 3)

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2014
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 94

Das Thema «Mikrotonalität» – in der neuen MGG unter den Stichworten «Mikrotöne», «Tonsysteme» sowie «Stimmung und Temperatur» abgehandelt – ist ebenso zentral wie heikel. Zentral, weil es die Komposition und die Musiktheorie ebenso betrifft wie die Aufführungspraxis, und heikel, weil es – als Schnittstelle von Theorie und Praxis – sowohl in seinen systematischen als auch historischen Aspekten nicht immer adäquat behandelt sowie verstanden wird und unter den Verdacht des Theoretisch-Spekulativen, bisweilen sogar «Selbstgestrickt»-Sektiererischen gerät. Der Kluft, die sich diesbezüglich zwischen der Theorie und Geschichte der Musik, die den Stoff an den Musikhochschulen bildet, und der Praxis von Komposition und Aufführung auftut, wirken die in Mikrotonalität – Praxis und Utopie versammelten Beiträge aufklärerisch entgegen.
Der Band vereinigt 13 Texte aus dem gleichnamigen internationalen Kongress, der mit Konzerten, Workshops und Vorträgen im Juni 2011 von der Stuttgarter Musikhochschule ausgerichtet wurde. Dass hier etwas Hochkarätiges entstanden ist, das eine relativ umfassende, wenngleich nicht erschöpfende Auseinandersetzung ermöglicht, lässt schon das Inhaltsverzeichnis erahnen. Thematisiert werden nicht nur Teilbereiche der Neuen Musik – profunde Beiträge über Julián Carillo (Roman Brotbeck) und Harry Partch (John Schneider), Klaus Huber (Till Knipper), Brian Ferneyhough (Claudia Pätzold) sowie von Wolfgang von Schweinitz («Zur Emanzipation der Konsonanz. Das Repertoire der nach Gehör stimmbaren Intervalle») –, sondern auch Zusammenhänge in historisch-systematischen Aufrissen. (Gerade durch diese Beiträge erhält der Band Substanz und Perspektive.) Einen ersten, weit gefächerten Überblick gibt Andreas Meyer mit «Mikrotonalität wa­rum? Eine historische und systematische Skizze».
Die theoretische Basis der Komposition mit «zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen» ist die Teilung der Oktave in zwölf äquidistante Intervalle. Dass diese nicht ohne Häme bisweilen «die zwölf verstimmten Töne» genannt werden, drückt das Ungenügen aus, das wir bei dieser Beschränkung empfinden. Ein wesentlicher Strang der kompositorischen Entwicklung von Ligeti bis zu Nono ist seit etwa 1960 dann auch mit dem Aufbrechen des Einzeltons, seiner Isolierung und Verräumlichung befasst. Und noch die Geräuschkultur oder «Klangkunst» kann als Fortsetzung der Auflösung der Intervalle und des Einzeltons erachtet werden.
Brachte die 24-Saitenteilung des Orients eine reich verzierte, mikrotonal einstimmige Musik hervor, ging die Mehrstimmigkeit der abendländischen Musik aus den reduzierten, geradzahlig-einfachen Proportionen der Gregorianik hervor (dazu: Johannes Kotschy: Die Schule von Athen). Die Teilung der Oktave durch 17, 19, 24 und 31, die schon in der Antike reflektiert wurde, wird sicht- und hörbar im Bau von Tasteninstrumenten mit gespaltenen Obertasten, um von C entferntere Tonarten darzustellen: Das Archicembalo (1555) von Nicola Vicentino erlaubt mit 31 Tasten / Tonstufen pro Oktave die Entfaltung jener suavitas, von der viele Nachgeborene träumen.
Zu relativieren ist die Vorstellung, dass die pythagoräische Stimmung für das europäische Mittelalter, die mitteltönige für die Renaissance gegolten hätte, in der die reine Terz als (imperfekte) Konsonanz wahrgenommen wurde, und diese im 18. Jahrhundert von der wohltemperierten oder gleichschwebenden abgelöst worden wäre. Es ist davon auszugehen, dass noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein erweiterte mitteltönige Stimmungen gebräuchlich waren und es sich bei den wohltemperierten Stimmungen um ungleichmäßig gleichschwebende Temperaturen handelt. (Noch heute realisiert eine gute Flügelstimmung nicht reine, sondern leicht gestreckte Oktaven und ein Kulturorchester wird as und gis unterschiedlich intonieren.) Die äquidistante gleichschwebende Stimmung gilt nicht vor dem späten 19. Jahrhundert – und erst dann kann von einer konsequenten Mikrotonalität und mikrotonalen Systemen streng genommen die Rede sein.
Zur Vermeidung des Ausdrucks «Mikrotonalität» spricht Martin Kirnbauer daher von «Vieltönigkeit». Die Grenzen der Mitteltönigkeit, die kompliziertere Modulationen nicht erlaubt, erläutert der Cembalist Johannes Keller, der sich 2006 von Markus Krebs in Schaffhausen eine 24-tönige Klaviatur bauen ließ, mit der er sein italienisches Cembalo mit wenigen Handgriffen in ein «Cimbalo cromatico» (Zarlino 1558) verwandeln kann. Der Musiktheoretiker und Organist Bernhard Haas macht deutlich, dass J. S. Bach den Unterschied von c und his trotz äußerlich identischer Frequenzen (und Tasten) hörbar komponieren konnte. Wagner hingegen – und das ist sein kompositorisches Verdienst – komponiert gleichzeitig die Differenz und die Identität enharmonischer Tonstufen wie eis und f, wobei die Differenz hörend nicht mehr nachvollzogen werden kann. Letzteres gilt auch für Skrjabin und Schönberg, und noch für Ivan Vyšnegradskij, dessen vierteltönige Klangfelder auf äquidistanten Teilungen basieren.
Die Kontroverse zwischen Schönberg und Heinrich Schenker wird gemildert, wenn klar ist, dass beide sich auf verschiedene Epochen beziehen. Schenker hatte das 16./17. Jahrhundert samt mitteltöniger Temperaturen vor Auge, Schönberg das klassisch-romantische Zeitalter. Die Konsonanztheorie von James Tenney und Wolfgang von Schweinitz hingegen ist gleichsam a-historisch physikalisch begründet – sie geht von möglichst stufenlos gleitenden Übergängen aus, während der Spektralismus auf (harmonischen und inharmonischen) Proportionen der Obertonreihe basiert.
Zwei Beiträge über «Tonsysteme im türkisch-arabischen Raum» runden diesen mit Bild- und Notenmaterial gut ausgestatteten Band ab. Eine Doppel-CD zum Thema soll 2015 folgen.
Walter-Wolfgang Sparrer