Sandner, Wolfgang

Miles Davis

Eine Biografie

Verlag/Label: Rowohlt, Berlin 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 94

Wenn alles über einen Musiker gesagt, geschrieben und veröffentlicht wurde: warum dann noch ein Buch, und noch eine Betrachtung, und noch eine histo­risch-kritische Gesamtaufnahme? Eine Antwort auf diese Frage findet der Leser zwischen den Zeilen in Wolfgang Sandners Biografie über Miles Davis, die bisher unbekannte Details nennt und die mit ihrem Blick hinter die Kulissen und auf die rassistisch motivierten Unterdrückungsmechanismen in den USA die Jazzmusik generell und den Jazzmusiker Davis speziell einer kritisch-analytischen Würdigung unterwirft.
Kritisch – das heißt bei Wolfgang Sandner weder vernichtend noch herablassend, das heißt distanziert und doch nahe am Objekt, sachlich und doch auf emotionaler Wellenlänge. Neun Kapitel benötigt der Professor am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Marburg und Autor von Büchern über Heiner Goebbels und Rockmusik – Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, um sich dem Objekt seiner musikalischen Begierde von dessen Kinder- und Jugendzeit in East St. Louis, den prägenden Jahren in New York und der hin- und hergerissenen, von Drogen beschädigten und gefährdeten Karriere als meisterlicher Trompeter und stilbildender Prophet einer sich ständig verändernden Jazzmusik – die Miles Davis selbst nie als Jazz bezeichnete – anzunähern.
Auf einem der Fotos, die Frank Driggs im Januar 1949 während der Birth of the Cool-Sessions aufgenommen hat, sitzt Miles Davis Trompete spielend auf einem Klappstuhl, das rechte Bein über das linke Knie gelegt, den Oberkörper schräg abgewinkelt, das weiße Hemd makellos, die Haare streng nach hinten gekämmt. Diese Pose des auf äußere Wirkung bedachten Musikers stellt eine noch schärfere Charakterisierung dar als die später favorisierten papageibunten, schillernden Outfits eines Künstlers, der stets den Ton der Zeit einfangen und ihn in neue, wegweisende Klanggeschichten verpacken konnte, die manchen Jazz-Fan erst einmal schlucken ließen. Miles Davis, der Protagonist – neben Chet Baker – des Cool Jazz, machte Musik und keinen Jazz, wie er selbst sagte. Wolfgang Sandner gelingt eine durchgängig «coole», angemessene Sprache, in die er seine Erkenntnisse aus der Jazzgeschichte integriert und zugleich am Gegenstand seiner Betrachtungen – an Miles Davis’ Lebensgeschichte – auf ihre Plausibilität überprüft.
Miles Davis kam in East St. Louis als Sohn eines Zahnarztes auf die Welt – in einer mit gewaltigen Rassenun­ruhen konfrontierten Stadt, die nach einem Exodus der weißen Einwohner eine Stadt der Schwarzen wurde. Die Familie zählte zur gehobenen schwarzen Mittelschicht; der stets etwas hochnäsig wirkende Miles fand in der aufmüpfig-extremen Bürgerlichkeit seiner Familie die Quelle für sein spektakuläres Tun. Schon im Kindesalter kam er mit Musik in Verbindung, spielte später mit lokalen Musikern in East St. Louis und ging mit 18 Jahren nach New York – um dort mit Charlie Parker zu spielen! Darunter tat er es nicht.
Also begann Miles Davis im aufsässigen Bebop Fuß zu fassen, ohne dass er als Angehöriger und Verfechter dieses Jazz-Stils gilt. Sein großer Verdienst war die Verbreitung des Cool Jazz, dieser Wegmarke, die eine ganze Generation von Musikern und Hörern prägte. Mittendrin Davis, der Exzentriker, der markante Entwicklungspositionen innerhalb des Jazz (Fusion, Jazzrock, ja, sogar popmusikalische Tendenzen) anstieß und beförderte.
Wolfgang Sandner spart keine noch so extravagante Eigenschaft des Trompeters aus und würdigt sein Schaffen insbesondere im sechsten Kapitel «Die Meisterschaft», als das legendäre Quintett mit Davis, John Coltrane, Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones «auf einer Welle des neuen schwarzen Selbstwusstseins mitgetragen» wurde. Miles Davis wurde zum Symbol, zur Kultfigur, zum Hipster auf der kulturellen Seite der politischen Bürgerrechtsbewegung. Seine späteren Ausflüge in die Glitzerwelt und die Niederungen des Pop vermögen diesen Ruf, dieses Image nicht anzukratzen: Miles Davis war, ist und bleibt ein Großer des Jazz. Eine nicht neue Feststellung, die aber durch Wolfgang Sandners Biografie frisches Blut bekommt.

Klaus Hübner