Oehring, Helmut
Mit anderen Augen
Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten
Einige Monate nach seinem 50. Geburtstag hat der Komponist Helmut Oehring ein Buch vorgelegt, das er zwar nicht eigens als «Autobiografie» deklariert, dem es jedoch an persönlichen Bekenntnissen nicht mangelt. Darin verzichtet der Autor entgegen dem Untertitel «Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten» auf eine chronologische Erzählung und verwebt in reichlich assoziativer Manier Erinnerungen an sein bisheriges Leben mit Werkbeschreibungen, mit Kommentaren zur Tages- und Kulturpolitik, mit einer Vielzahl von Textzitaten sowie mit eigenen Übersetzungen aus der Gebärdensprache.
Diese Mischung aus Poesie und Prosa liest sich mitunter etwas halbgar so als wolle Oehring sich seine existenziellen Erlebnisse im Rahmen eines kurzatmigen «Stream of Consciousness» von der Seele schreiben. Das mag einer Selbstvergewisserung des Autors zwar förderlich sein, ist dem allgemeinen Nachvollzug einer so wechselvollen wie vielschichtigen Künstlervita allerdings eher abträglich. Und auch wenn manches der 15 Kapitel aus den heterogenen Textsorten «komponiert» erscheint, so war der btb-Verlag bislang nicht unbedingt für seine formell gewagten Künstlerbücher bekannt, weshalb solche Ambitionen im Satzbild dann auch schnell an ihre Wirkungsgrenzen stoßen.
Inhaltlich fokussiert Oehring auf seine Erfahrungen als so genanntes CODA-Kind, als Child of Deaf Adults, das schon früh zwischen seiner gehörlosen Familie und der Welt der Hörenden vermitteln sollte. Das in dem «Dazwischen» vielfach und tragisch erlebte Scheitern von Kommunikation hat in Oehrings musikalischem Werk berührenden Ausdruck gefunden, und sein Buch führt diesen in manch humorvoller, manch trauriger Episode fort, so z. B. in der Beschreibung eines Gehörlosen-Sportlerballs mit wie zum Trotz aufspielender Band oder in der Erinnerung an einen Badeausflug, bei dem der Vater sein mit dem Ertrinken kämpfendes Kind zunächst «überhört».
Das Ausgeliefertsein an einen Alltag, dessen Institutionen das Hören wie selbstverständlich voraussetzen, ist also einfühlsam beschrieben. Daneben wäre nun aber auch eine eingehende Reflexion von Oehrings künstlerischem Umfeld wünschenswert gewesen. Der Unterricht bei Georg Katzer, die Zusammenarbeit mit der Gebärdensolistin Christina Schönfeld und dem Gitarristen Jörg Wilkendorf, ebenso die kreative Allianz mit Iris ter Schiphorst sind dann doch allzu schnell abgehakt hier hätte man dem Autor die gleiche Liebe zum Detail gewünscht, die er der seitenlangen Beschreibung adoleszenzbedingter Grausamkeiten (nicht selten zum Leidwesen der Leser) angedeihen lässt. Auch von seinem Aussteigerdasein in der DDR Anfang der 1980er Jahre und seiner «Nachwendepechsträhne» inklusive zeitweiliger Heroinabhängigkeit bleiben nur Andeutungen übrig, die eher einen Mythos nähren anstatt neue Einsichten zu schaffen.
Obwohl oder besser: gerade weil der Rezensent Helmut Oehrings Werk und sein künstlerisches Credo sehr schätzt, entpuppte sich dieses Buch in seiner mangelnden Klarheit und mit seinen stilistischen Schwächen als eine Enttäuschung.
Fabian Schwinger