Thomalla, Hans

Momentsmusicaux / wild.thing / Cello Counterpart / Stücke Charakter

Verlag/Label: Wergo WER 65712
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 3
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

 

«Widersprüche zum Klingen bringen» – dies ist nach eigenem Bekunden die ästhetische Triebfeder des Komponierens von Hans Thomalla (geb. 1975), das immer auch ein Komponieren in den Grenzbezirken von Fremdmaterial und eigener Sprachfindung ist und sich dabei den physischen Qualitäten der Klangerzeugung in einem durchaus Lachenmann’schen Sinne bewusst ist. Thomallas detailversessene Kammermusiken lassen jedoch keineswegs inkommensurable Ausdruckssphären vordergründig kol­lidieren, sondern verfolgen einen eher transformatorischen Ansatz. Getreu der im Booklet zitierten Erkenntnis von Alexander Kluge, dass «die analytische Methode» eine «Grundform der sinnlichen Erfahrung ist», lässt der ehemalige Zender-Schüler weniger die Idiomatik des verwendeten Materials sprechen, als er dessen Essenzen bis zur Unkenntlichkeit verwandelt und strukturell produktiv macht.
In den Momentsmusicaux, Kammermusik für Flöte, Klarinette, Viola und Klavier (2003/04) werden zwei musikalische «objets trouvés» extremen Filtertechniken unterworfen: eine Sequenz aus dem 2. Satz des Klari­nettenquintetts op. 115 von Brahms sowie der Beginn einer Flötenetüde von Theobald Böhm, die in gegen­läufigen Beschleunigungs- und Dehnungsprozessen miteinander in Beziehung gesetzt werden. wild.thing für verstärktes Klavier und zwei Schlagzeuger (2002/03) hingegen verarbeitet einen Kadenztakt aus Chopins Nocturne op. 37/1 und Schlagzeugelemente eines Jimmy Hendrix-Songs. Unhörbar natürlich, um aus der «präformierten Syntax und Grammatik von Salonmusik und Rocksong» auszubrechen und etwas Anderes, Drittes zu erzeugen. Aber was ist das, dieses Andere? Manchmal doch nicht viel mehr als ein klingendes Analyselabor, eine kompositorische Destillationsanlage, wo die gegenseitige Ausfransung der Materialebenen immer dann bemerkenswertere Ergebnisse zeitigt, wenn die musikalischen Abläufe an den Rand des Nichts geraten, wie am Ende der Momentsmusicaux.
Das Problem, mit dem Thomallas Musik gelegentlich zu kämpfen hat, ist, dass man ihr oft anhört, dass sie bis in die letzten Winkel konstruiert ist! Vor einer gewissen Sprödigkeit ist auch Cello-Counterpart (2006) nicht ganz gefeit, obwohl dessen Skordaturen, Präparationen und mikrotonale Verzerrungen bewusst klangliche Unvorhersehbarkeiten und Artikulationen einbeziehen, die ständig auf der Kippe stehen und sich klanglicher Identität vehement verweigern. Lucas Fels lotet dieses Spannungsverhältnis von (angedeuteter) melodischer Expressivität und einem gleichsam physischen (aber auch sattsam bekannten) Klangpotenzial des Instruments mit großer Tiefenschärfe aus.
Das spannendste Stück dieses Porträts im Rahmen der «Edition zeitgenössische Musik» des Deutschen Musikrats ist jedoch zweifellos Stücke Charakter, Kammermusik für sechs Instrumente (2005), wo das brillant aufgelegte ensemble recherche im Zuge einer großangelegten Zersplitterung ins Fragmenthafte gekonnt mit den emotionalen Befindlichkeiten des Charakterstücks spielt.

Dirk Wieschollek