Dusapin, Pascal
Morning in Long Island
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3
Wie wird man Komponist? Möglicherweise durch ein Erweckungserlebnis. Als der Franzose Pascal Dusapin im Alter von 18 Jahren eine Aufführung von Edgard Varèses Arcana erlebte, stand das Berufsziel des schöpferischen Musikers schlagartig fest. Varèse (als «musikalischer Großvater») und sein unmittelbarer Lehrer Iannis Xenakis (der «musikalische Vater») als Vorbilder formten Künstlerpersönlichkeit und Musikästhetik Dusapins. Zum Umgang mit den großen Orchestermassen, zur quasi skulpturalen Modellierung des Klangs wurde Dusapin von ihnen angeregt. Dazu mögen Einflüsse von Olivier Messiaen kommen, wenn Dusapin in Orchesterwerken, wie sie auf der vorliegenden CD dokumentiert sind, in unterschiedlichen Zeitdimensionen denkt und simultan ganz langsam ablaufende Prozesse von schnelleren Bewegungen in anderen Stimmen überlagern lässt.
Inhaltlich richtet diese CD den Blick auf eine Schnittstelle in Dusapins Orchesterschaffen, das sich immer wieder in ganzen Werkreihen organisiert. Von den sieben 1992 mit Go begonnenen «Solos» sind hier in einer Einspielung des Orchestre Philharmonique de Radio France unter Myung-Whun Chung die beiden letzten Stücke Reverso und Uncut dokumentiert, von einem neuen Projekt naturinspirierter «Konzerte für Orchester» ein mit Morning in Long Island betitelter Anfangsteil, der seiner von Dusapin geplanten Fortsetzung noch harrt.
Einem monodischen Grundprinzip verpflichtet sind die «Soli», welche dem Komponisten zufolge «über die Idee der reinen Linie nachdenken sollen, doch ohne alle Polyphonie». Das Paradox der Einstimmigkeit in der Vielstimmigkeit realisiert Dusapin bei Reverso in Gestalt eines gewaltigen musikalischen Mahlstroms, dessen ruhige Grundlinie immer wieder von minimalen Kräuselbewegungen überlagert ist. Das soghafte Vorwärtsstreben der Musik wird aber auch gelegentlich von heftigen Impulsen durchsetzt, als breche sich die sonst stetige Bewegung des Klangflusses an Klippen und Schnellen. Vor allem auf Blechbläserklang gestellt ist das Finalstück «Reverso»: eine Studie mit wuchtigen, unter Gravitationskräften im Raum rotierenden Klangmassen, in der hinter kompositorischen Anregungen durch Varèse sogar noch Erinnerungen an den musikalische Expressionismus und die spätromantische Sinfonik eines Bruckner und Mahler durchscheinen.
Gegenüber Reverso und Uncut wirkt die mehrteilige Komposition Morning in Long Island durchsichtiger in ihrem Klanggefüge, wenn auch nicht grundsätzlich anders gestaltet als die Folge der «Solos». Die Naturinspiration der Musik des Morning bleibt fern von Abbildhaftigkeit. Auf den doppelten Brechungseffekt legt Dusapin Wert: Dass der Natureindruck in der Seele gespiegelt und erst von dort wieder in eine klangliche Vision umgesetzt wird, ist sozusagen seine moderne Paraphrase von Beethovens Devise bei Komposition seiner Pastoralsinfonie: «mehr Empfindung als Malerei».
Gerhard Dietel