de Grandis, Renato

Movimento perpetuo

Preludi per pianoforte

Verlag/Label: 2 CDs, Wergo WER 67872
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Wie wenige andere musikalische Formen erlebte das Präludium im Laufe der Musikgeschichte einen Wandel, der es in Gestalt und Inhalt vollständig veränderte. Von den etüdenhaften Praeludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers hin zu den Präludienzyklen des 19. Jahrhunderts und den schillernden Orchesterwerken von Liszt oder Debussy verzeichnet das Präludium eine schier unübertreffliche Vielfalt an Inkarnationen. Ursprünglich dem Wortsinne nach in der Funktion eines Vorspiels, emanzipierte es sich zusehends zu einer eigenständigen Gattung. Der Präludienzyklus von Renato de Grandis auf der neu erschienenen Wergo-CD steht in einer Linie zu dieser mitunter bruchhaften Tradition: In seinen vier Heften à zwölf Präludien entfaltet sich ein wahnwitziges Referenzgeflecht musikalischer Anspielungen und Allusionen, die von der Auseinan­dersetzung mit überlieferten Modellen, Gattungs- und Formfragen bis hin zum kompositorischen Nachdenken über Werke von Debussy, Liszt, Skrjabin oder Bach reichen.
Charakteristisch für den Umgang de Grandis’ mit der Flexibilität der Form ist gleich das erste Stück des ersten Hefts – in Anlehnung an Debussy mit Clair de lune überschrieben. Wie in diesem berühmten Werk aus der Suite bergamasque beginnt der Namensvetter mit einer Oktav-Geste aufwärts und öffnet somit einen Raum für Assoziationen. Diese werden aber sogleich unterbunden, in­dem die Musik nicht wie erwartet dem durch Debussy vorgegebenen Verlauf folgt, sondern mit Pendelbewegungen in eine Art Suchzustand danach verfällt. Ähnlich spielerisch rekurriert de Grandis auf die virtuosen Präludien Bachs (etwa in Piccolo studio sulle ottave e sulle risonanze), deren Gestus er mit Spieltechniken zeitgenössischer Musik kombiniert. Im erwähnten Stück erhält so eine tonale Schlusskadenz durch zusätzlich stumm niedergedrückte Tasten einen flirrenden Resonanzraum, der ihr eine farbige Entrücktheit verleiht.
Der Pianist Antonio Tarallo begegnet den Herausforderungen des Zyklus mit einem erstaunlichen Maß an Flexibilität und spielt sich gewandt durch die stilistische Bandbreite, die es hier zu meistern gilt. Ganz nah am Notentext transportiert er jede Geste, jedes Pathos, jede Kontemplation so überzeugend und individuell, dass es mitunter scheint, als wären hier unterschiedliche Pianisten am Werk. Damit ist Tarallo ein wahrer Glücksfall für die Einspielung von de Grandis’ klingendem Schaukasten.
Entstanden sind die 48 Präludien zwischen 1998 und 2002 und können mithin als Spätwerk bezeichnet werden, nachdem der Komponist jahrzehntelang eine erfolgreiche Kar­riere gepflegt und sich später nach Italien zurückgezogen hatte, um sich der Philosophie und Malerei zu widmen. Die Stücke tönen aber im Gegenteil keineswegs nach Resignation, sondern zeugen vom Horizont und der Freiheit eines Komponisten, als dessen einziges Diktum sein eigener Ausspruch gelten konnte: «Die musikalischen Mittel, gerade die der Neuen Musik, müssen im Dienst der musikalischen Gedanken stehen – nicht umgekehrt.»

Patrick Klingenschmitt