Krones, Hartmut (Hg.)

Multikulturelle und internationale Konzepte in der Neuen Musik

Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis

Verlag/Label: Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2008
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 90

Der Titel dieser Publikation verwundert zweifach. Dass eine so selbstverständliche Voraussetzung der westlichen Kunstmusik wie Internationalität eigens genannt wird, mag immerhin Neugierde erwecken. Das Konzept der Multikulturalität jedoch ist im Zuge jüngerer Entwicklungen der Kultursoziologie längst problematisiert und zwischenzeitlich weitgehend durch neue Theorien der kulturellen Globalisierung, Hybridität (Homi K. Bhabha) oder «Super-Diversität» (Steven Vertovec) ersetzt worden.
Erklären lässt sich seine prominente Verwendung im vorliegenden Band dadurch, dass ein großer Teil der vierzig Beiträge aus den Jahren 1991 bis 1998 stammt – und damit also mehr als ein Jahrzehnt weitgehend übergangen wird, in dem nicht nur die Sozialwissenschaften, sondern auch die (angelsächsische und deutschsprachige) Musikwissenschaft vollkommen neue Zugänge zu Fragen und dem Wandel kultureller Differenz, Identität, Heterogenität, Ethnizität eröffnet haben. Nicht nur weil – trotz vereinzelter Aktualisierungen mancher Texte – kein einziger der Beiträge substanziell auf diese neueren Forschungen eingeht, sondern auch weil nahezu alle Autoren an herkömm­lichen Methoden der (historischen) Musikwissenschaft bzw. Musikjournalistik – Biografik, Dokumentation der Werkgenese, konventionelle Partituranalysen – festhalten, ist der Erkenntnisgewinn der Lektüre begrenzt. Dass daneben mehrere Autoren mit zwei oder drei Beiträgen vertreten sind, trägt ebenfalls nicht gerade zu einem Methodenpluralismus bei.
Die ersten sieben Aufsätze sollen theoretische Grundlagen der Thematik begründen. Nur ein Text allerdings enthält eine ansatzweise Definition von «Multikulturalität». Der Philosoph Rudolf Burger argumentiert darin für eine Priorität des Rechtsstaats vor einer «Politik der Differenz», der «forcierten Unterschiede»: «Mindeststandards der Homogenität von ‹Weltbildern›» seien die Voraussetzung für wechselseitige Anerkennung (S. 41). Durch Burgers Text schimmert die Fiktion einer moralisch einwandfreien Korrekturfunktion staatlicher Institutionen, die in krassem Gegensatz zur Rea­lität europäischer Migrationspolitik steht. Aus den anderen Texten dieses Kapitels ist eine eigentümliche Mischung aus Optimismus und histo­rischer Nivellierung herauszulesen. Dabei dient (das historische wie das gegenwärtige) Wien, als polykultureller Schmelztiegel verstanden, wiederholt als «Modell» von Multikulturalität, wobei die hier besonders persistenten Formen von Isolation und Ausgrenzung des «Fremden» allenfalls gestreift werden (ein wenig zu selbstzufrieden konstatiert Manfred Wagner, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich «keine Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit als Bedrohung der eigenen Existenz in der musikalischen Szene vorhanden» gewesen seien (S. 75).
Wenn Moritz Csáky in einem ähnlichen Sinn die kulturellen Mischformen der Wiener Moderne um 1900 als mögliches «Laboratorium» für kul­turelle Prozesse der Gegenwart beschreibt, wie sie etwa in Robert Robertsons Begriff der «Glokalisierung» zusammenlaufen (S. 68), oder der Herausgeber in seiner einleitenden Geschichte musikalischer Xenophobie und Ausgrenzung seit der Antike die päpstliche Bannbulle gegen die Ars nova mit der nationalsozialistischen Propaganda gegen «Entartete Kunst» vergleicht (S. 27 f.), so wird über fundamentale historische Unterschiede allzu rasch hinweggeeilt. Csákys Über­­legung, dass «das, was wir heute beobachten», also möglicherweise gar nicht so neu sei (S. 67), ist eine recht grob geschnitzte Folgerung aus dem an sich verdienstvollem Versuch, ein Lebensgefühl, dem alle Konstanten abhanden gekommen sind («im Gleitenden leben» nennt Stefan Zweig es 1935), als eine Grunderfahrung der Moderne herauszuarbeiten, die bis heute weiterwirkt.
Der Großteil der weiteren Beiträge beschränkt sich auf die Darstellung von einzelnen Komponistinnen und Komponisten, die – auch wenn sie in Amerika oder «an den Rändern Europas» wirken – nahezu durchweg zu den arrivierten und «kanonisierten» Namen einer offiziösen «Neuen Musik» zählen. Dass über Komponisten wie Cage, Feldman, Yun, Takemitsu, Scelsi oder Nancarrow zwischenzeitlich eine hoch differenzierte und spezialisierte Forschung existiert, die in aller Regel weit ausführlicher und detaillierter über Genese, Struktur und (auch: interkulturellen) Gehalt ihrer Werke informiert, liegt auf der Hand.
Besonders flüchtig und kursorisch fallen die überblicksartigen Darstellungen aus, etwa zu multikulturellen Tendenzen in französischer oder amerikanischer Musik, in denen zent­rale Namen wie Jean-Claude Eloy oder Chou Wen-Chung nicht ein einziges Mal genannt werden. Nur einzelne Beiträge heben sich durch wirklich eigenständige Skizzenforschung und originelle analytische Perspektiven ab, so Thomas Schäfers Unter­suchungen zu Jani Christous ent­grenzenden Musik-Aktions-Szenarien, Wolfgang Rufs fundierte Darstellung der kubanisch-europäischen Hybridität in Henzes El Cimarrón oder Peter Revers’ ethnomusikologisch informierte (wenn auch durch zwischenzeitliche Veröffentlichungen weitgehend obsolet gewordene) Entschlüsselung der Japan-Rezeption in Brittens Curlew River.
Der Gesamteindruck, dass es sich um einen recht flüchtig kompilierten Band handelt, verstärkt sich schließlich dadurch, dass nur ein Teil der Beiträge tatsächlich die im Titel genannten Leitthemen überhaupt zum Gegenstand macht, die schlechte Qua­lität der Notenbeispiele und nahe liegende Fehler im Register (etwa bei der Alphabetisierung und Schreibweise chinesischer Namen) tun ein Übriges. Viel wesentlicher aber ist, dass die
Publikation die Chance vergibt, das Thema der Multikulturalität in der neuen Musik wirklich ernst zu nehmen, etwa indem das Komponieren außerhalb Europas und Nordamerikas in seinen oft radikal divergierenden kulturellen und soziologischen Voraussetzungen genauer untersucht wird, was auch – nicht zuletzt – ein weit breiteres methodisches Spektrum und vor allem eine internationalere Auswahl an Autoren impliziert hätte. Die Beiträge zeigen so vor allem, wie schwer sich die deutschsprachige Musikwissenschaft weiterhin mit einer Thematik tut, die dazu zwingt, eine kanonisierende Musikgeschichts­schrei­bung in ihren Grundlagen zu hinterfragen und die Homogenität her­kömm­licher «Kultur»-Begriffe zu über­denken.

Christian Utz