Bettina Wenzel

Mumbai Diary

Field Recordings / Voice / Akappaikinnari

Verlag/Label: Gruenrekorder Gruen 086
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Bettina Wenzel ist Stimmkünstlerin und Komponistin. Das Material der Komponistin ist das Material der Stimmkünstlerin und umgekehrt. Ihre Ausbildung hat Bettina Wenzel von 1992 bis 2001 am Centre Artistique Roy Hart in Frankreich absolviert, nach der Methode des Stimmspezialisten Alfred Wolfsohn und dessen Schüler Roy Hart. Die Idee Wolfsohns von der totalen Entgrenzung der Stimme, womit in erster Linie ein Tonumfang gemeint ist, der jenseits der üblicherweise akzeptierten geschlechtsspezifischen Ausprägung liegt, benutzt Wenzel in ihrem Sinne für intermediale Performances, für Stimmen-Stücke, die inspiriert sind von den bewegten Bildern des Alltags, vom Sound einer Stadt, vom Klang einer Sprache. Wenzel betreibt im weitesten Sinne die Arbeit einer akustischen Kartografin der Gegenwart. Dass sie es dabei mit ständig in Bewegung befindlichen Grenzen zu tun hat, macht ihre Arbeiten wiederum auf wundersame Weise zu vitalen Momentaufnahmen, zu historischen Dokumenten, die dennoch nicht zu altern scheinen.
Die vorliegende CD Mumbai Diary trägt all diese Charakteristika in konzentrierter Form geborgen schon in ihrem Titel. Sechs Monate lang war Bettina Wenzel im Jahr 2009 als Stipendiatin der Kunststiftung NRW am Goethe-Institut in Mumbai, Indien. Dort sind neben den Vorarbeiten für die Mumbai-CD auch Performances entstanden wie black fan quartett für Stimme und vier Ventilatoren. Mumbai Diary nun ist akustisches Abbild und musikalische Reflexion der ersten zehn Tage, die Wenzel in der Megapolis Mumbai verbracht hat, ein Hör-Stück in neun Teilen, ein akustisches Wege-Netz des Viertels, in dem sich die Autorin aufhielt, ein akustisches Dokument ihrer Streifzüge.
Das erste Soundposter ist mit Electric Cricket überschrieben. Es ist ein Spiel mit klanglichen Identitäten. Die Quelle der kribbelig-knistrigen Soundkoloraturen ist nicht eindeutig identifizierbar. Eine Dekodierung des musikalischen Materials ist wohl auch nicht intendiert. Es geht Bettina Wenzel offenbar eher darum, dem Hörer das Gefühl zu vermitteln, dass eine Stadt eine Bühne ist, dass Geräusche kulturell geprägt und in dieser Prägung auch zu vermitteln respektive als Material zu interpretieren sind. Im weiteren Verlauf dieser Introduktion, deren Titel Electric Cricket poetischer Leitfaden und falsche Fährte zugleich zu sein scheint, implantiert Wenzel ihre sprachmusikalischen Koloraturen, die den Duktus indischer Kunstmusik ebenso reflektieren wie den fließenden Rhythmus der benutzten Geräusch-Environments. Im weiteren Verlauf dieser CD also wird der Hörer, geleitet von bildhaften Titeln wie Crowded, The day before Yesterday, Long Hours oder Scraping Ice in June, dem Stimmengewirr auf Mumbais Straßen begegnen, der perkussiven Musik, die eine kleine Prozession begleitet, oder auch den Klängen indischer Musikinstrumente und eben Wenzels Stimme, sprachlos-sprachmächtige Antworten formulierend auf den Mumbai-Sound.

Annette Eckerle