Palmer, John

Musica reservata

Verlag/Label: Animato_now ACD6136
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 84

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Musica reservata: So nannte sich dermaleinst im Zeitalter der Renaissance eine vorwiegend anspruchsvoll komponierte Klang-Kunst, die sich an einen kleinen Kreis von Kennern wandte: an gebildete, vorwiegend adelige Liebhaber der Musik, die feine Nuancen der Textvertonung würdigen oder in ihr verschlüsselte Bedeutungen dechiffrieren konnten. Für welches Publikum von heute sind jedoch jene zwölf Klavierstücke «reserviert», die der britische Komponist und Pianist John Palmer in den Jahren 1988/89 unter diesem historischen, auf den Musiktheoretiker Adrianus Petit Coclico zurückgehenden Titel schuf? Zumindest lässt sich feststellen, dass sie sich an eine Hörerschaft richten, die abseits von einer lauten, marktschreierischen Eventkultur die Muße hat, sich auf ein intensives Lauschen einzulassen, auf ein Nachsinnen und Nachdenken angesichts einer nur in sparsamen Zeichen sprechenden Tonkunst.
Der aus der Romantik entlehnte Begriff des «Nachtstücks» stellt sich ein, wenn man Palmers Kreationen lauscht, und er hat seine Berechtigung zunächst dadurch, dass die einzelnen, zwischen gut zwei und elf Minuten währenden Teile der musica reservata, wie der Komponist berichtet, «meist während der Nachtstunden» entstanden. Die Ruhe und relative Ereignisarmut dieser eigentlich dem Schlaf vorbehaltenen Zeit zwischen den Tagen findet hier ihr tönendes Abbild. Palmer schreibt intuitiv wirkende Klänge, die den romantischen Topos des träumerisch am Klavier vor sich hin fantasierenden Musikers reflektieren und in die Gegenwart übersetzen. Minimale, durch aufgehobene Dämpfung nachhallen­de Impulse, Akkorde, Cluster oder Kurzmotive wechseln mit Zonen der Stille, in die hinein die Klaviertöne ausschwingen. Erregungspotenzial und Dynamik bleiben durchweg ohne große Spitzen, was einzelne Überraschungen jedoch nicht ausschließt und auch nicht, dass Stücke wie die leichtflüchtige Nr. 6 oder die scherzoartige Nr. 10 einen gezielten Kontrast zur gemessenen Zurückhaltung der übrigen Stücke bilden.
Die Pianistin Friederike Wild meistert mit Erfolg die nicht leichte Aufgabe, Palmers auf die Dauer etwas gleichförmig wirkenden Klangpointillismus trotzdem als Spannungsbogen zu inszenieren, der die Aufmerksamkeit beim Zuhören nicht abdriften lässt. Als langsames Dahinwandeln ist ihre Interpretation angelegt, als ein musikalisches Spazieren, das nach tas­tenden Schritten des Vorwärtsgehens immer wieder innehält und betrachtende Ruhepausen einlegt. Zudem entsteht der Eindruck, dieser Spaziergang erfolge nicht auf vorgebahnten Wegen, sondern lasse die eingeschlagene Richtung aus Laune und Zufall heraus im Moment des Dahinwandelns erst entstehen.
Friederike Wild realisiert in ihrer Einspielung den Zyklus als Abfolge von Solostücken, wenn auch andere Darstellungsformen denkbar sind: Wie John Palmer ausdrücklich erwähnt, ließe sich seine musica reservata auch von zwei Pianisten aufführen, die gleichzeitig denselben oder verschiedene Teile daraus spielen.

Gerhard Dietel