Kreidler, Johannes / Harry Lehmann / Claus-Steffen Mahnkopf

Musik, Ästhetik, Digitalisierung

Eine Kontroverse

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 92

Selten spannte ein Buch so sehr die Lust, gleich selbst ein Buch zu schreiben, als Replik auf all die hochfliegenden Spekulationen, Gedankenexperimente, vollmundigen Thesen und Polemiken. Gibt es eine produktivere Lektüre?
Seit den 1960er Jahren werden Einsatzmöglichkeiten und Auswirkungen des Computers auf Produktion, Notation, Distribution und Rezeption von Musik diskutiert. Neuen Stoff erhielt die Debatte in den 1970er Jahren durch die Synthesizer-Technologie und seit den 1980er Jahren durch die massenhafte Verbreitung des Personal Computers. Jetzt erhitzen Internet, Google, YouTube, Facebook, Open source, MP3, iPod etc. die Gemüter. Harry Lehmann wertet die Digitale Revolution als Generalangriff auf den etablierten Musikbetrieb und seine Institutionen, Musikverlage, Festivals, Rundfunkanstalten. Er zielt auf eine «Grenzfolgenabschätzung» der technischen Innovationen, welche die neue Musik radikal verändern, indem sie das gesamte Arsenal möglicher Klänge verfügbar und jeden Kompositionsstil simulierbar machen. Doch setzt sich Kunst nicht gerade durch Unvorausberechenbarkeit von epigonaler Abkupferei ab?
Von neuen Institutionen und Klang­erzeugern schwelgt auch Johannes Kreidler. Dass er «frische Klänge» aber ausgerechnet von Akkordeon, Zither und Kontrabassklarinette erwartet, lässt zweifeln, ob er die Musik der letzten fünfzig Jahre kennt, von der er sich abzusetzen sucht. Historisch unreflektiert wirkt auch seine Erwartung eines totalen Material- und Stilpluralismus dank offener Archive. Immerhin gehört schon seit Cages 4’33’’ selbst noch die Abwesenheit von Musik zur Musik. Fraglich bleibt auch, ob die Internet-, Soft- und Hardware-Konzerne solchen Pluralismus befördern oder nicht eher uniformierte Massenkonfektionsware? Naiv simplifizierend ist auch Kreidlers Behauptung, die «ästhetische Isolation» der neuen Musik lasse sich an Oboe und Bassflöte ablesen, die «per se Verweigerung der Mehrheitslebenswelt» seien. Anderes an seiner Argumentation wirkt erzwungen konfrontativ, während verschiedene Entwicklungsstadien längst friedlich koexistieren, wie Cembalo und Klavier, das jenes einst verdrängte. Der Glücksritter des Cyberspace zielt damit weniger auf Erkenntnis der Situation als auf Selbstlegitimation, was leicht zu durchschauen und ihm nicht zu verübeln ist, lässt sich das eigene Profil als Künstler doch durch Abgrenzung schärfen.
Den kritischen Gegenpart dazu liefert Claus-Steffen Mahnkopf. Den Trends zu Massenkultur und anonymer Schwarm­intelligenz setzt er Hochkultur, Werkbegriff und individuelles Künstlertum entgegen. Er rückt zurecht, dass ästhetische Entwicklungen weder allein durch technologischen Fortschritt bedingt sind noch ein­dimensional verlaufen. Geschichte ist ein dynamischer Komplex aus zahl­losen Parallel- und Gegenbewegungen mit zu vielen Unbekannten, die sich nicht prognostizieren lassen. So bleibt jede Hochrechnung des Bestehenden auf die Zukunft spekulativ.
Je beweglicher die Gegenwart, desto offener die Zukunft. So prallen in diesem Buch unterschiedliche Generationen und Kunstbegriffe mit Ernst, Ironie, Hellsicht, Ignoranz und viel subjektivem Furor aufeinander: Reichlich Stoff, sich angeregt amüsiert zu ärgern.
Rainer Nonnenmann