Reich, Steve

«My musical tastes are a little unusual»

DVD «musica viva – forum der gegenwartsmusik» 10

Verlag/Label: Wergo NZ 72
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 84

Steve Reich gilt als einer der Begründer der Minimal music. Diese in den frühen 1960er Jahren in den USA entstandene Gegenbewegung zur dissonanten Unüberschaubarkeit der seriellen Musik setzte bewusst auf die Hörbarmachung und Abwandlung ein­facher Verläufe. Die Betonung eines durchgehenden rhythmischen Pulses und die (Rück)-Besinnung auf eine schlichte Diatonik (mit diesen beiden Charakteristika zeigten sich Einflüsse von ethnischer sowie von Popmusik) wurden dabei als provokativ empfunden. Minimal music war und ist zwar erfolgreich, doch die strengen Apologeten der neuen Musik – insbesondere in Europa – erschwerten ihr die Zugehörigkeit zum Kanon der zeitgenössischen Musik.
Dass Steve Reich diesem Kanon dennoch seit einiger Zeit angehört, liegt nicht nur daran, dass er es vermieden hat, sich wie seine Minimal-Kollegen Philip Glass oder La Monte Young in das Fahrwasser des allzu Seichten bzw. einer mystischen Unerreichbarkeit zu begeben. Entscheidender für seine zunehmende Wertschätzung ist, dass er seine kanonartig geschichteten Klang-Patterns, die er seit der Music for 18 Musicians von 1976 kaum weiterentwickelt hat, ab den 1980er Jahren mit gesellschaftsrelevanten, populären Themen verknüpft hat. Diese stammen u. a. aus dem Bereich der jüdischen Historie bzw. Identitätsfindung angesichts des Holocaust oder fundamentalistischer Bedrohungen. Die vorliegende DVD präsentiert You Are (Variations), eine Komposition für Ensemble und Chor, der unter anderem Textzeilen eines chassidischen Mystikers vorträgt, sowie Daniel Variations (ebenfalls mit Chor), komponiert als Hommage an einen amerikanisch-jüdischen Reporter, der 2002 von islamischen Extremisten ermordet worden ist.
Die zehnte DVD der «musica viva»-Editionsreihe konzentriert sich neben diesen beiden auf zwei weitere, rein instrumentale Werke. Die durch Kommentare erläuterten sowie als Konzertaufzeichnungen enthaltenen Stücke sind für Orchester bzw. für größere Ensembles konzipiert und werden mustergültig interpretiert. Mittels Anmerkungen beteiligter Musiker des Ensemble Modern lässt sich auf erhellende Weise verfolgen, wie Reichs transparente Klangwelt erarbeitet wurde. Deutlich wird allerdings mit Eight Lines und besonders mit Three Movements, die beide vor allem aus Bearbeitungen früherer Werke bestehen, wie die spröde Feinheit seiner kammermusikalischen Werke sich in das Pathos des spätromantischen Apparats transformieren. Im Interview auf der DVD betont Reich zwar, dass er keine einzige Minute damit zugebracht hätte, romantische Musik zu hören, während er in einem früheren Interview erläuterte, dass er bis zum Alter von 14 Jahren allein mit Musik aus der klassisch-romantischen Pe­riode in Berührung kam. Die DVD bietet demnach neben dem musika­lischen Erlebnis Möglichkeiten, sich mit Fragen nach musikalischen Tra­ditionen und Adaptionen in der zeitgenössischen Musik zu beschäftigen.

Thomas Groetz