Custodis, Michael / Geiger, Friedrich

Netzwerke der Entnazifizierung

Kontinuitäten im deutschen Musik­leben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel

Verlag/Label: Waxmann, Münster 2013, 256 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 93

Bis 1966, als der rororo-Band «Musik im Dritten Reich» von Joseph Wulf erschien, war über die Tätigkeit der Repräsentanten des Musiklebens in den Jahren 1933 bis 1945 im öffentlichen Leben geschwiegen oder abgewiegelt worden. Es gelang flächendeckend Verstrickungen zu leugnen, Täter-Biografien zu beschönigen und alte Geschäftsbeziehungen fortzusetzen. Tatsächlich kam es insgesamt gründlich anders, als die Alliierten dies 1945 konzipierten, besonders auf dem Terrain der Musik. Da gab es noch weniger eine «Stunde Null» als in anderen gesellschaftlichen Bereichen – dafür in besonderer Weise elastisches Wegducken, erfolgreiche Vertuschungen, großes Leugnen und Uminterpretation vorangegangener künst­lerischer und wissenschaftlicher Beiträge zur deutschen Kulturnation. In dieser, so kontaminiert sie 1945 erschien, bedeuteten Musik und Mu­sikleben eine «Größe», die «das deutsche Superioritätsdenken auf diesem Gebiet eher bestärkte» und über die «zwischen den Vertretern der Besatzungsmächte und den Besetzten ein mehr oder minder stillschweigendes Einverständnis» herrschte.
Michael Custodis und Friedrich Geiger resümieren, was sich bereits in der von Thomas Schipperges 2012 ausgerichteten Mannheimer Tagung als Konsens der Forschung herausgeschält hat: «Einer Re-Education im Bereich Musik fehlte somit die Basis.» Hinzu kam der «Geniebonus» für viele der umzuerziehenden Musikschaffenden und eine rasch sich herausbildende Gemeinsamkeit zwischen denen, die vor 1945 Opfer bzw. Täter waren, gegen die fremde politische Bevormundung der musikalischen Bezirke (prominentes Beispiel hierfür ist das Wohlwollen des in die USA geflüchteten Arnold Schönberg für den bekennenden Antisemiten Hans Pfitzner).
Der Musikjournalist und Librettist Heinrich Strobel, seit Anfang 1939 Emigrant in Frankreich, erhielt im Frühjahr 1945 die Chance seines Lebens. Von Paris aus, wohin er nach Lagerhaft in Südfrankeich zurückgekehrt war und wo seine Frau Hilde, geborene Levy, illegal lebte, wurde er als Leiter der Musikabteilung eines für den französischen Sektor aufzubauenden Rundfunks verpflichtet (heute: SWR). Im Zuge der Profilierung dieser Tätigkeit – wie dann auch bei den Festivals für Neue Musik in Donaueschingen, die der Südwestfunk ausrichtete – wurde die Zusammenarbeit mit Werner Egk aktiviert, mit dem die Strobels seit den Berliner 1930er Jahren persönlich ziemlich eng befreundet waren. Obwohl der Komponist und Dirigent Egk sich prononciert zum NS-Regime bekannt hatte und von diesem in besonderer Weise gefördert worden war («von irgendetwas muss man ja le­ben»), wirkte Strobel federführend am Entnazifizierungsverfahren des Freundes mit. Der war im Gegenzug wieder hilfreich für die Festigung der Stellung von Strobel als Doyen der Neuen Musik weit über den Südwesten der Republik hinaus. Die von Custodis/Geiger versammelten Dokumente rekonstruieren nicht nur die Hintergründe und Techniken des Reinwaschens von Tätern wie Egk, sondern sind aufschlussreich für Reibungen und Verwerfungen zwischen dem, was die Autoren als «System Kunst» und – auf methodisch nicht ganz unanfechtbare Weise – dem «Sys­tem Politik» kontrastieren.

Frieder Reininghaus