Night Studies

For the installation «Expressive Rhythm» by Florian Pumhösl after Charles Ives and Alexander Rodchenko

Verlag/Label: col legno, WWE 1CD 20299
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 77

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 2
Gesamtwertung: 3

«Sie haben diese CD bereits ausgepackt. Sie können sie beim Bügeln laufen lassen. Sie können einen Apfel aufschneiden, zuhören, aus dem Fenster sehen, einkaufen gehen und zurückkommen.» Eine eigenwillige Gebrauchsanweisung ist es, die Marino Formenti seinen Night Studies mitgibt, eine Empfehlung, die ästhetisch auf Erik Saties «Musique d’ameublement» zurückverweist: Der Komponist empfiehlt ein beiläufiges Hören, das nur unterschwellige Wahr­nehmen der ertönenden akustischen Phänomene und weist seiner Musik die Funktion einer Tapete zu, welche die Wände von Räumen schmückt, aber die meiste Zeit nicht bewusst wahrgenommen wird. Allerdings ist dadurch die traditionelle Rezeptionshaltung, jene des konzentrierten Konzertsaalbesuchers gegenüber dem «Werk», nicht ausgeschlossen: «Wenn Sie sorgfältig zuhören möchten, ist ein Abspielsystem von hoher Qualität empfehlenswert.»
Marino Formentis Night Studies für Klavier solo sind der akustische Teil einer gemeinsam mit dem österreichischen Künstler Florian Pumhösl entwickelten Film-Installation, die den Titel Expressive Rhythm trägt. Mit dieser Überschrift verweist die Installation auf eine gleichnamige Gouache des russischen Malers und Fotografen Alexander Rodchenko von 1943/44, in welcher aus Sicht der Nachgeborenen in überraschender Weise bereits die Technik der «Drip paintings» von Jackson Pollock vorweggenommen ist.
Der akustische Teil dieser Installation basiert auf Musik von Charles Ives: auf dem «Thoreau»-Satz seiner Concord-Klaviersonate, auf dem Lied Tom sails away sowie der unvollendeten Study 11. «Ich habe sie Prozeduren unterworfen, die Ives selbst liebte, und Ives durch seinen eigenen Fleischwolf gedreht» – so beschreibt Marino Formenti die Vorgehensweise gegenüber dem gewählten Ausgangsmaterial. Entstanden ist hierbei eine Folge von 29 kurzen Pianostudien: fragile, vom Geist des Minimalismus angehauchte Gebilde einheitlicher Faktur. Der Zuhörer vernimmt sanft gleitende Figuren, sparsame Tontropfen in die Stille hinein, einen oft bis zur Einstimmigkeit reduzierten Klaviersatz, der nur selten einmal akkordisch verbreitert oder motivisch verdichtet wird.
Mehrere Abbildungen – aus denen das Booklet weitestgehend besteht – vermitteln wenigstens einen schwachen Eindruck von der filmischen Komponente der Installation, in der Florian Pumhösl Naturaufnahmen von Seen und Wäldern aus Karelien verwendete und damit wiederum auf Rodchenko verweist, der dort in den 1930er Jahren Fotografien menschenleerer Landschaften und verästelter Vegetation geschaffen hatte. Der Book­let-Leser kann im Wechsel mit monochromen Flächen Bilder betrachten, bei denen schon nicht mehr recht zu unterscheiden ist, wo es sich um Naturgewachsenes handelt und wo um künstliche Formen. Blickt man auf ein Labyrinth kahler Baumäste oder sind die sich kreuzenden linearen Strukturen Ergebnisse malerischer Tätigkeit?
Gerhard Dietel