Heucke, Stefan
Nikolaus Groß
Oratorium für Soli, Chöre, Orgel und Orchester op. 62
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5
Im Jahr 2001 wurde Nikolaus Groß, der am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee wegen seiner Kontakte zu Widerstandskreisen durch den Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet wurde, von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen. Groß war einer von den so genannten «kleinen Leuten» im Ruhrgebiet gewesen, die sich aus christlich-katholischen Motiven gegen die Nationalsozialisten gewandt hatten.
Möglicherweise hätte der Komponist Stefan Heucke nie vom Schicksal des Nikolaus Groß erfahren, wäre nicht 2007 das Bistum Essen an ihn herangetreten mit dem Auftrag, zum zehnten Jahrestag der Seligsprechung von Groß im Oktober 2011 ein Oratorium zu schreiben.
Der Protestant Heucke sagte zu auch weil der überzeugte Katholik Groß im Gebet mit protestantischen Mithäftlingen den ökumenischen Gedanken hochgehalten hatte. Heucke sagte auch zu, weil er so die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nach seiner Oper Das Frauenorchester von Auschwitz fortsetzen konnte. Einzige Bedingung Heuckes: Das Libretto sollte sein Bruder, der Historiker Clemens Heucke, schreiben, dessen Schreibduktus so Stefan Heucke, für ihn gut in Musik umzusetzen sei. Komponist und Librettist sollten sich eingehend mit den Briefen und theologischen Schriften von Nikolaus Groß beschäftigen sowie mit Bibeltexten, all das mit dem Ziel, in dem Oratorium «einen Menschen aus Fleisch und Blut» erfahrbar zu machen und eine Art moderne Passionsgeschichte zu erzählen.
Formal ist Stefan Heucke dafür auf der konventionellen Ebene verblieben. Das Personal hat er eng begrenzt; es treten auf: Nikolaus Groß, Elisabeth Groß, ein Sprecher, ein Bass als Stimme des Bösen respektive der nationalsozialistischen Machthaber. Die Klangsprache ist unüberhörbar an der klassischen Moderne orientiert. Heucke hält diese Entscheidung konsequent durch, auf seine Weise, im ersten Teil des Oratoriums, das den Menschen Nikolaus Groß porträtiert, im zweiten Teil, in dem Groß die Zeichen der Zeit erkennt, im dritten Teil, der Groß Nähe zu den Widerstandskreisen und seine Verhaftung beschreibt, und im vierten Teil, welcher dem Kampf von Elisabeth um ihren Mann gewidmet ist, dem innigen Briefwechsel des Verurteilten mit seiner Familie und der Hinrichtung.
Als Symbol für den Passionsgedanken zieht sich J. S. Bachs Choral «O Haupt voll Blut und Wunden» durch das Werk. Harmonisch-melodisch bewegen sich die Solovokalpartien im Grenzbereich vom Spätromantischen zum Expressionistischen der Zweiten Wiener Schule. Die Zitate- und Allusionstechnik wird sparsam inhaltlich akzentuierend eingesetzt (der Chor «Lieb Vaterland magst ruhig sein» für die Annäherung von Groß an die Widerstandsbewegung, der «Walkürenritt» als Untermalung für die Nachricht vom Sprengstoffanschlag auf Hitler). Alles in allem ein dramaturgischer Wurf von großer dramatischer Intensität, der einen auch an Bernd Alois Zimmermann denken lässt und dessen musikalische Maxime von der «Kugelgestalt der Zeit».
Annette Eckerle