Viola Rusche / Hauke Harder

No Ideas but in Things

The Composer Alvin Lucier

Verlag/Label: Wergo MV 0809 5
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 80

Der 1931 in New Hampshire geborene Alvin Lucier ist einer der Pioniere auf ei­nem Feld der experimentellen Musik, auf dem sich vor allem in den USA in den 1960er Jahren die Mischformen von Performance, Klangenvironment und Low­tech-Elektronik entwickelten – künstlerisch perspektivenreiche Prototypen dessen, was heute verallgemeinert Klangkunst genannt wird. Durch die gedankliche Konzentration und die formale Disziplin, die er bei der Umsetzung seiner Vorstellungen in Klang und Aktion walten lässt, überschreiten Luciers Arbeiten die Kleindomäne des ephemeren Einmal-Experiments und der heute so beliebten Klangbastelei. Sie besitzen einen eindeutigen Werkcharakter, was ihm auch erlaubt, sie als Performer in annähernd identischer Form wiederholt aufzuführen, und darüber hinaus sogar normative Kraft. Man darf deshalb Lucier mit gutem Grund als einen Klassiker auf seinem Gebiet bezeichnen.
Der Film von Viola Rusche und Hauke Harder bringt das auf einleuchtende Weise zur Darstellung. Zugleich dokumentieren die beiden Autoren aufmerksam die Arbeitsmethoden Luciers. Sie folgen ihm beim Aufbau seiner Installationen und Versuchsanordnungen mit Kamera und Mikrofon auf Schritt und Tritt und lassen ihn seine Arbeit detailliert kommentieren. Er erhält auch ausführlich Gelegenheit, seine ästhetischen Anschauungen darzulegen. Man erfährt zum Beispiel, warum er mit der europäischen neuen Musik Darmstädter Provenienz nichts anfangen konnte, oder was ihn von Cages Auffassungen unterscheidet. Bei­de Male ist es, bei allen Unterschieden in den Inhalten und Verfahren, ein Zuviel an abstrakten Ideen: bei den Europäern in Form einer ideengesteuerten Komplexität, bei Cage in Gestalt der Unbestimmtheitsideologie, deren Programm, so Lucier, darin bestand, Hindernisse zwischen die Klangproduktion und das Hören zu stellen. Cage wiederum, sagt er, kritisierte bei seiner Mu­sik, dass sie umstandslos auf Ursache und Wirkung abgestellt war.
In der Tat bergen Luciers Werke kaum Geheimnisse. Sie erscheinen als Musterbeispiele für die pragmatische amerikanische Mentalität und funktionieren nach dem WYSIWYG-Prinzip: What you see is what you get. Und doch setzen seine genau kalkulierten Arrangements von Dingen stets hochinteressante Gedankenketten frei. Darauf zielt auch der Filmtitel No Ideas But In Things ab. Er stammt aus einem Gedicht von William Carlos Williams, Ostküsten­amerikaner wie Lucier. Wobei mit den «Dingen», denen die Ideen innewohnen, bei Williams die konkrete Erfahrungswelt im weitesten Sinn gemeint ist, im Gegensatz zu abstrakten Konzepten.
Die Aussage hat Lucier zu einem Kerngedanken seiner eigenen Ästhetik gemacht. Sie verleiht den Werken ihren Charakter als rational gestaltete und empirisch gut geerdete Versuchsanordnungen, die dem angloamerikanischen common sense viel nä­her stehen als der Dialektik europäischer Prägung. Doch schließt das selbst die Idee von Transzendenz nicht ganz aus – wenn sie denn aus den Dingen selbst hervorgeht. Das ist z.B. der Fall in seinem Klassiker I am Sitting in a Room, der den langsamen Zerfall des Wortklangs – und mit ihm auch des Inhalts – in einer oft wiederholten Aufnahme/Wiedergabe-Schleife demonstriert und damit das Vergehen der Zeit in Form einer existenziellen Metapher erfahrbar macht. Das Werk ist in mehreren Abschnitten über die ganze Dauer des Films verteilt – ein Einfall, der den Zeitaspekt von Luciers Kunst schön veranschaulicht.
Lucier wird in diesem Film als ein In­dividualist alter Prägung vorgestellt – ein Künstler, der in den 1970er Jahren die Arbeit mit selbst entwickelten elektronischen Geräten dem konfektionierten Klang des Synthesizers vorzog und der sich in seiner Performance auch nicht scheut, sich als Person dem Publikum schutzlos auszuliefern, indem er seine Gehirnströme in Klang transformiert und damit im wahrsten Sinne des Wortes sein Inneres nach außen kehrt. Von den heutigen Versuchen der Gehirnforschung, die am gläsernen Mensch arbeitet, unterscheidet sich Luciers Experiment jedoch dadurch, dass diese Ströme den Charakter von «Dingen» bekommen; das Persönliche wird im Klang verkapselt und zu ästhetischen Objekten transformiert. Das Private bleibt privat – auch das gehört zu den Tugenden dieses klugen, bescheidenen und zugleich mutigen Soloperformers.

Max Nyffeler