Schoeck, Othmar

Notturno

Verlag/Label: ECM New Series 2061 476 6995
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/02 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

 

Hätte sich Dietrich Fischer-Dieskau nicht Jahrzehnte lang für den schweizerischen Opern- und Liederkomponisten Othmar Schoeck und zumal für dessen Notturno für Streichquartett und Stimme eingesetzt – der vermeintlich einzelgängerische Traditionalist wäre ein Opfer hartnäckiger Vorurteile geblieben. Inzwischen dämmert selbst den einstigen Verächtern, was die jüngere Generation längst empfindet. Im Beiheft bekennt Heinz Holliger: «Viel deutlicher als früher spüre ich jetzt eine enge Verbindung mit Alban Berg (vor allem zu dessen Lyrischer Suite und zu Wozzeck) sowie zu Schönbergs frühen Werken (Verklärte Nacht, Kammersinfonie, 1. und 2. Streichquartett). Neu und ganz eigenständig ist auch die oft schlichte, unpathetische Art der Deklamation der so nachtdunklen und todtraurigen Verse von Nikolaus Lenau, während die Instrumente weit ausgreifende, ekstatische Melodiebögen ziehen …»
Zwischen 1931 und 1933 entstanden, ist Schoecks Notturno knapp ein Vierteljahrhundert jünger als Schönbergs 2. Streichquartett, doch rund fünfzig Jahre älter als Aribert Reimanns Streichquartett mit Baritonstimme Unrevealed (auf Liebesgedichte und -briefe Lord Byrons an seine Halbschwester Augusta Leigh). Während die «Schwesterwerke» von Stimmungswechseln geprägt sind, verweilt das Notturno, vom Ausklang abgesehen, in Getragenheit und Melancholie. In seine fünf Sätze verwob Schoeck neun wehmutsvolle Gedichte von Nikolaus Lenau, der Byrons Weltschmerz teilte, und ein Prosafragment seines Lieblingsdichters Gottfried Keller. Auf das Sternbild des Großen Wagens hindeutend, hellt es den Ton des Werks am Ende auf, indes die kummervolle Seele «schuldlos wie ein Kind» ins All entschwebt – eine Wendung, die an den Finalsatz aus Schönbergs 2. Streichquartett erinnert.
Ohne Dietrich Fischer-Dieskau nachzuahmen, erweist sich Christian Gerhaher als würdiger Geisteserbe des großen Sängers und Meisters romantischer Liederwehmut. Des schmalen Grats zwischen Weltschmerz und Tränendrüse gewärtig, bewahrt der feinsinnige Schubert- und Schumann-Sänger Schoecks «intime Briefe» an Mary, die verlorene Liebe seines Lebens, vor larmoyantem Tonfall – im Einklang mit dem wunderbaren Rosamunde Quartett, das sich, der leitmotivischen Bedeutung des vielfach abgewandelten «Mary»-Themas wohl bewusst, der Betrübnis des Werks unsentimental hingibt. Das albtraumhafte Scherzo, das (an Rilkes Gedicht Herbsttag erinnernde) Herbstbild im 5/4-Takt und die finale «Chaconne» schaffen labile Gegengewichte zur
depressiven Seelenlage des ersten und dritten Satzes.

Lutz Lesle