Jazylbekova, Jamilia

Nuit de mars / Voci / Aspan / Le refus de l’enfermement IV /Aikyon

Verlag/Label: Wergo WER 6583 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Die 1971 in Kasachstan geborene, seit 1995 in Deutschland ansässige Musikerin Jamilia Jazylbekova hat sich zu einer Komponistin entwickelt, die bei aller Verankerung in der internationalen neuen Musik ihre kulturellen Wurzeln nicht vergisst. «Ich bin nach wie vor sehr mit Kasachstan verbunden. Latent ist das Gefühl immer da, nach Hause kommen zu wollen.» So spricht sie über sich und damit zugleich über ihre Musik, in der oft ein Unterton mitschwingt, welcher auf ihre Herkunft verweist.
Das gilt zumal für ihre 2008 entstandene Komposition Voci, die auf der vorliegenden CD vom Ensemble Modern unter der Leitung von Kasper de Roo in der 2011 geschaffenen Neufassung für Frauenstimme, Instrumente und Zuspielband aufgenommen wurde. Den Vokalpart gestaltete die Komponistin selbst in bewusst herber Intonation: «Ich habe keine Belcanto-Stimme …» Doch auch fast kindhaft schlicht kann ihr Organ im Schlussteil der Komposition wirken, der in den ruhigen Klangfluss des Anfangs zurückführt, nachdem die Instrumente zwischenzeitlich katastrophale Zuspitzungen und Klangballungen entwickelt haben, deren grelle Signale beim Hö­ren geradezu schmerzen.
Auch Jazylbekovas Ensemblestück Aspan von 2004 gründet auf ihrer Erinnerung an die ferne Heimat. Nach eigener Aussage hatte die Komponistin hier «den unbeschreiblichen Himmel über den Bergen von Kasachstan» vor Augen. Doch ist ihre musikalische Reflexion nicht zur klingenden Postkarte mit blauem Bilderbuch-Firmament geraten. Das Musikalisch-Schöne hat wohl, in mancher zart duftigen kammermusikalischen Wendung, seinen Platz, doch ziehen auch Wolken und Schatten über diesen Himmel, zwischen denen dann wieder blendend helle Lich­ter durchscheinen. Unberechenbarkeit gehört zu den Qualitäten dieser Musik, in der sich filigrane Linien unversehens sinfonisch verdichten und das ruhige Strömen der Klänge heftigen Pulsationen weicht.
Das Ensemble Modern zeigt sich hier wie auch in Nuit de Mars und Le refus de l’enfermement IV als eine Formation von Musikern, die jeder für sich virtuose Qualitäten mitbringen. Diese technische Bravour ist aber auch unabdingbar für die Interpretation von Jazylbekovas Musik, die weniger blockhaft als von den individuell geführten Einzelstimmen her konzipiert und stets darauf angelegt ist, den Instrumenten durch ungewöhnliche Spielanweisungen ungeahnte Wirkungen abzugewinnen.
Abgerundet wird dieses im Rahmen der «Edition Zeitgenössische Musik» des Deutschen Musikrats erschienene Komponistenporträt mit Jamilia Jazylbekovas 2005 entstandenem Aikyon, welches dem solistischen Violoncello Eva Böckers die Klänge eines Zuspielbands gegenüberstellt. Das Kunstwort «Aikyon», zusammengesetzt aus Silben, die im Kasachischen für «Sonne» und «Mond» stehen, kann man als Metapher für jenen quasi überpersönlichen Kosmos verstehen, der von den vorgefertigten akustischen Materialien aufgespannt wird, während das Cello sich vor diesem Klanggrund mit ganz subjektiven, oft erregten Äußerungen zu Wort meldet.

Gerhard Dietel