Vihmand, Mari

O edelstes Grün

Verlag/Label: artist.cd ARTS 81172
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/02 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

 

Neben Helena Tulve macht nun eine zweite Komponistin aus Estland mit fragilen Klangbildern auf sich aufmerksam. Mari Vihmand, geboren 1967, studierte in Talinn bei Eino Tamberg und Lepo Sumera, später bei Gilbert Amy in Lyon. Seit zehn Jahren lebt sie in Deutschland.
Während Helena Tulve in Sula (1999) einen Schmelzprozess darstellt, ließ sich Mari Vihmand in Floreo (1996) von der Vorstellung des Aufblühens, Wachsens und Verzweigens leiten. Schon dieses frühe Orchesterstück offenbart ihre Vorliebe für feingewirkte Strukturen und irisierenden Klangfarbenfluss, der hier wellenartig verläuft, durchfurcht von clusterartigen Akzenten der Blechbläser.
Bald danach entwickelte sie ihre so genannte akustische Tonreihe: einen siebentönigen Modus aus vier Ganztönen plus Halbton, Ganzton und Halbton. Er bildet fortan die Basis sowohl der melodischen als auch der harmonischen Aspekte ihrer Musik, wobei sie Terzen bzw. Sexten bevorzugt. Das Klavierstück Varsti oled sa siin («Bald bist du
da», 1998) entspringt erstmals dieser Quelle, die ihr viel gestalterische Freiheit lässt. Neben Segmenten der Tonreihe finden sich in ihrer liquiden Klangwelt zunehmend quasi lichtspiegelnde Tonwiederholungen.
Konsequent nutzt sie ihr System im Duo Down the Stream («Fluss­abwärts», 2000) für Violine und Klavier, das man neo-impressionistisch nennen könnte. Plätschernde Figuren der Violine durchrieseln Klavierakkorde, Sprudelmotive des Klaviers überlaufen Arpeggien der Violine. Einem Einzelton entspringend, verbreitert sich die Quelle mal eilend, mal verweilend zum Bach, Fluss und Strom. Dieser mündet in einen Ozean der Stille. Die überblasend gewonnenen Obertöne der akustischen Reihe verwirbelt die Flöte in Keeris (2002) zu einer hochvirtuosen Solo-Szene. Tongirlanden, Trillerketten, Doppel- und Tripelzunge, Flatterzunge, Multiphonics, Atem- und Klappengeräusche sind der Stoff aufschäumender Flötenträume.
Öfter beflügeln literarische Eindrücke Vihmands Klangfantasie. So bezieht sich das Titelstück O edelstes Grün für fünf Instrumente und Schlag­zeug (2004) auf ein Gedicht der Hildegard von Bingen: synästhetische Studie über die Farbe Grün in allen erdenklichen Schattierungen. Tex­te u. a. von Peter Härtling und einem Astronauten vor dem Start verwob sie zu einem hauchzart abgetönten Gesangszyklus über die Heimkehr der Engel, Inglid tulevad tagasi (2001). Die Timbrestudien der Estin sind bei ihren oben genannten Landsleuten in allerbesten Händen.

Lutz Lesle