Dusapin, Pascal

O Mensch!

«… die Höhen, die Nacht, der Tod …»

Verlag/Label: col legno, WWE 1CD 20405
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Sein Interesse für die Gedichte von Nietzsche, so Pascal Dusapin, sei alt. Mehr als 15 Jahre lang sei die Idee in seinem Kopf geschwirrt, «Musik rund um diese Gedichte zu erfinden». Weshalb er diesen Gedanken über einen so langen Zeitraum immer wieder antastete, betastete, dennoch wieder auf Distanz zu ihm ging, mag vor allem zwei Gründe haben. Zum einen ist es kein leichter, kein leicht in Töne zu setzender Stoff. Angezogen zwar vom Tonfall Nietzsches, fühlte sich Dusapin zugleich in seinem Zugriff gehemmt, «da es nicht leicht ist, ein Schreiben exakt auseinanderzudividieren, das von Natur aus zwischen Poesie und Prosa oszilliert». Er laborierte an der Frage, ob er seinen kompositorischen Impuls eher auf die poetische oder vielleicht doch auf die erzählerisch-theatrale Ebene von Nietzsches Gedichten richten sollte, die sich ihm so virtuos wie vehement der engeren Begriffsdefinition zu entziehen schienen. Zum anderen musste Dusapin wohl auf die Begegnung mit dem Bariton Georg Nigl warten. Dessen Stimme changiert mit erstaunlicher Leichtigkeit hinüber ins Tenorale, was durchaus mit den extremen Tonlagen von Nietzsches Gedicht-Prosa korreliert. Und Nigl ist ein Sänger, der, selbst wenn er sich mit dem Lied befasst, auch seinem klanglichen Habitus nach irgendwie doch auf dem Theater steht.
Nachdem Dusapin und Nigl bereits zwei Opern miteinander realisiert hatten, wünschte sich der Sänger einige Lieder vom Komponisten. Für Dusapin sollte es die gedanklich befreiende Initiale werden, nun «seinen» Nietzsche zu machen, weshalb Nigl eines Tages die Noten für einen Zyklus in seiner Post fand, 23-teilig für Singstimme und Klavier, mit einigen Zwischenspielen im Äußeren die Anlage einer romantischen Oper suggerierend, noch nicht einmal vollständig, weil auf 27 Stücke angelegt.
Nigl sah sich mit dem Tagebuch eines spätromantisch aufgewühlten, namenlosen Existenzialisten konfrontiert, mit Vokalkompositionen, in denen hin und wieder subkutan Richard Wagners Harmonik durchschimmert, auch dessen musikalische Rhetorik, am eindringlichsten in der Nummer 17 «An Richard Wagner». Der Klaviersatz ist hier auf das Äußerste reduziert, auf die Schraffur des harmonisch-melodischen Verlaufs. Die Sing-Sprechstimme hat in diesen wenigen Takten ein Ausdrucksspektrum aufzufächern, für das neben Wagner wohl auch Schönberg Pate gestanden hat. Hier wie auch sonst in diesem Zyklus, durch den der Geist Nietzsches wie ein Wiedergänger von Schuberts Winterreisendem wandert, werden jedoch nicht schnöde im eklektizistischen Sinne stilistische Anleihen gemacht, gar schnöde Musikgeschichte nachgeplappert. Wie schon in seinen Études pour Piano (vgl. die Rezension auf Seite 87) ließ sich Dusapin auch hier von überkommenen Formen inspirieren, um diese mit scharf vermessendem Ohr in Klanggewänder zu hüllen, die das Paradoxon der schlichten Opulenz feiern. Und wieder ist es die Pianistin Vanessa Wagner, die diesen Duktus in Vollendung beherrscht und also für Georg Nigl das kongenial künstlerische Gegenüber schafft.

Annette Eckerle