Riehm, Rolf
Orchesterwerke. Die Tränen des Gletschers / Nuages Immortels oder Focusing on Solos (Medea in Avignon) / Berceuse
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5
Musik entsteht aus Einfällen ihrer Komponisten. Aber Einfall muss nicht unbedingt mit Inspiration gleichgesetzt werden, das Wort erlaubt auch eine ungewöhnlichere Deutung: als das, was in den Arbeitsprozess «hineinfällt» und dem entstehenden Werk eine neue Dimension gibt, es in andere gedankliche Richtung weiterlenkt. Durch derartige «Einfälle» ist es zu erklären, wenn manche Werke Rolf Riehms inhaltlich geradezu übercodiert erscheinen. Nehmen wir etwa das Orchesterwerk Nuages Immortels oder Focusing on Solos. Der letztgenannte Titel bezeichnet Riehms Absicht, hier eine Serie von «Solospuren, Minikonzerten» für die beteiligten Musiker zu schreiben, ersterer bezieht sich auf eine Erinnerung an eine Langspielplatte mit rekonstruierter antiker Musik, darunter das berühmte «Seikilos-Lied», das als Monodie Riehms Stück durchzieht. Damit aber noch nicht genug: Als konzeptueller Impuls trat das per Fernsehen vermittelte Erlebnis der Schauspielerin Isabelle Huppert bei einem Festspielauftritt in Avignon hinzu, der der Komposition den weiteren Untertitel Medea in Avignon eintrug. Und schließlich bildet das für Riehm generell wichtige Thema der Medienkritik eine weitere ästhetische Komponente des Werks: Die Sinnentleerung von Bedeutungsträgern durch permanenten Gebrauch führt der Komponist vor, wenn er durch penetrante Wiederholungen eines c-Moll-Akkords Abstumpfungseffekte erzeugt. Zum geschlossenen Ganzen kann und will sich diese Vielfalt von Sinn-Schichten nicht mehr fügen. Die einzelnen Aspekte treten abwechselnd in den Vordergrund und ins Bewusstsein des Rezipienten; so wird die ertönende Musik zum kaleidoskopischen «Würfelspiel» ohne «durchlaufenden narrativen Strang».
Die 1989 in Donaueschingen uraufgeführte Berceuse verweist mit ihrem Titel auf Chopins gleichnamiges Klavierstück, ist aber alles andere als eine Wiegenlied-Idylle: sie zeigt vielmehr, in Gestalt polternd dazwischenfahrender Orchestereinwürfe und sonderbarer Störgeräusche, deren ständige Gefährdung.
In gezielten Extremen und Paradoxien ergeht sich das dritte der eingespielten Werke, Die Tränen des Gletschers, dessen Titel einen unaufhebbaren Widerspruch benennt: «Ein Gletscher weint nicht, er ist kalt.» Klänge von erhabener und archaischer Wirkung formt Riehm hier, um ein akustisches Pendant zum visuellen Eindruck von Eis- und Geröll-Landschaften zu schaffen, und setzt, wie bei den wechselnden Einstellungen eines Films, Abschnitte unterschiedlicher musikalischer Faktur aneinander. Spaltklänge in extremen Registern dominieren die Partitur und der Wunsch des Komponisten, das Unmögliche zu gestalten: das durch Schlaginstrumente angedeutete, aber nicht verstehbare Sprechen des Gletschers, oder, in einer «Peitschen-Arie», das Singen eines Instruments, das sich nur in kurzen, scharf abgerissenen Knällen artikulieren kann.
Gerhard Dietel