Posadas, Alberto
Oscuro abismo de llanto y de ternura / Nebmaat / Cripsis / Glossopoeia
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4
Es sind oft vielfältige Impulse musikalischer wie außermusikalischer Art, die sich im Schaffen eines Komponisten niederschlagen. Im Werk des 1967 geborenen spanischen Musikers Alberto Posadas lassen sich zweifelsfrei Anregungen durch den französischen Spektralismus ausmachen, wozu als ästhetische Inspirationsquelle Eindrücke anderer Kunstformen hinzutreten, insbesondere solche der antiken Architektur und der Malerei. Ein Drittes, was die Formgestaltung betrifft, ist Posadas Interesse für mathematisch-naturwissenschaftliche Modellbildungen, die ihn entsprechende Verfahrensweisen entwickeln lassen, um die Klänge seiner Stücke zu organisieren. Diese drei Ausgangspunkte für Posadas schöpferischen Prozess verleihen den vier Werken, die auf der vorliegenden CD dokumentiert sind, in unterschiedlicher Gewichtung und Kombination ihre jeweilige Physiognomie.
Das architektonische Interesse des Komponisten tritt vor allem in Nebmaat für Saxofon, Klarinette und Streichtrio hervor, das vom Eindruck der Knickpyramide des Snofru südlich von Kairo inspiriert wurde. Ein geheimes Labyrinth in diesem Bauwerk mag das Modell für die labyrinthischen Verzweigungen der Musik gebildet haben, in dem sich schillernde Streicherklänge mit Multiphonic-Effekten der Bläser zu einem schwebenden, aber auch keine Richtungsorientierung mehr gebenden Klangzustand verbinden, welcher den Hörer gleichsam in Trance versetzt.
Spektrales spielt eine gewichtige Rolle in Cripsis, das zu Beginn und auch später immer wieder extrem wuchtige, tiefe Sonoritäten vernehmen lässt, eine Art klanglichen Höllenschlund, aus dem dann brodelnd Tonmagma nach oben quillt, feurig in hellen Registerfarben schillert und zeitweise im höchsten Frequenzbereich in ein fast schmerzhaftes Pfeifen übergeht.
Mit der Komposition Oscuro abismo de llanto y de ternura von 2003/04 begann die Zusammenarbeit Posadas mit dem französischen Ensemble Intercontemporain, das, um einige Gastmusiker erweitert, alle Einspielungen auf der vorliegenden CD realisiert hat. Was anscheinend so poetisch «Dunkler Abgrund der Tränen und der Zärtlichkeit» benannt ist, erweist sich als ein Stück politikbezogener Kunst, das die Gewalt gegen Kinder an Kriegsschauplätzen ebenso anprangert wie die Indolenz von Politikern und Medien angesichts solcher Gräuel. Aggressivität ist das Grundmerkmal dieser Komposition vom Beginn mit seinen wuchtigen Bassschlägen und folgenden Schlagzeugattacken an; dem begegnen Passagen voller gleißend heller Farben und ruhigere Zonen, die Raum für Reflexion lassen.
Ergänzt wird die Einspielung durch einen rein konzertanten Ausschnitt aus dem Projekt Glossopoeia für drei Tänzer, vier Musiker, Video und Elektronik, das 2009 im Rahmen eines interdisziplinären Projekts beim Pariser Festival dAutomne uraufgeführt wurde. Hier hat Posadas mathematische Modelle der Botanik, welche die Morphogenese pflanzlicher Gewebe beschreiben, in Klang umgesetzt.
Gerhard Dietel