Schmickler, Marcus

Palace of Marvels (queered pitch)

Verlag/Label: Editions Mego, eMEGO 113
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 88

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Auf seinem neuesten Album Palace of Marvels – Palast der Wunder – beschäftigt sich der Komponist Marcus Schmickler mit dem Thema «Musik und Illusion». Ausgehend vom Titel könnte man zunächst meinen, es mit einer romantischen Verklärung der Thematik zu tun zu haben, eine musikalische Wunderwelt zu betreten. Dem Computermusiker geht es allerdings um eine wissenschaftliche, rein rationale Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Diese Vorgehensweise wird bereits in der Form der Stücke und der Materialwahl deutlich.
Schmickler verwendet in allen zwölf Kompositionen den Shepard Tone, der auf den Psychologen Roger Shepard zurückgeht. Dabei handelt es sich um eine Gehör-Illusion, die einen glauben lässt, einen Ton zu hören, der fortwährend steigt oder fällt, seine Tonhöhe aber konstant beibehält. Der Klang ist in permanenter Bewegung, scheint aber nirgendwo anzukommen – ein Vorgang, der endlos weitergehen könnte und in der bildenden Kunst, mit dem Bild Treppauf, treppab des niederländischen Künstlers M. C. Escher zu vergleichen ist.
Bereits James Tenney erkannte diesen interessanten Effekt und setzte ihn in dem Stück For Ann (rising) als ewig glissandierenden Klangstrahl ein. Schmickler geht anders vor. Er unterteilt einzelne Shepard-Töne in Arpeggien, verdichtet und entschlackt sie, beschleunigt oder verlangsamt ihr Tempo, verzahnt sie mit anderen elektronischen Partikeln und entwickelt so komplexe akustische Zusammenhänge, deren Architektur, trotz ihres logischen Aufbaus, nicht immer nachvollziehbar ist, psychoakustische Täuschungen produziert.
Die Konsequenz, Strenge und Sorgfältigkeit dieser Prozedur sind beeindruckend, weisen aber auch Nebenwirkungen auf. Die interessantesten Stücke auf dem Album sind nämlich diejenigen, in denen Schmickler die rigide Form des Arpeggios variiert oder gegen eine offenere Struktur eintauscht. In der elfminütigen Komposition Palace of Marvels lässt er zu Beginn düstere Klangwolken aufziehen, die sich nur langsam vorwärtsbewegen und eine bedrohliche Atmosphäre evozieren, während in den ersten Sekunden von Cursive Phasing ein Gemisch explosiver elektronischer Brennstoffe einen musikalischen Flächenbrand entfacht.
Die Arbeit Palace of Marvels demonstriert nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld «Mu­sik und Illusion», sondern verweist auch auf den Philosophen Jacques Attali, der in seinem Buch Noise: The Political Economy of Music wiederum den deutschen Denker Gottfried Wilhelm Leibniz zitiert, der das Konzept einer perfekten politischen Organisation entwickelte, in der es eine Person gibt, die, ohne bemerkt zu werden, alles sehen und hören kann – ein Blueprint für Michel Foucaults Panoptikum. Wie diese Informationen in der Musik von Palace of Marvels verarbeitet werden, ist unklar. Fakt ist allerdings, dass Marcus Schmicklers mu­sikalische Ideen derlei theoretischen Überbau nicht benötigen, da sie stark genug sind. In diesem Fall kratzen sie womöglich auch noch an den Grenzen unserer Wahrnehmung.
Raphael Smarzoch