Utz, Christian / Martin Zenck (Hg.)

Passagen

Theorien des Übergangs in Musik und anderen Kunstformen

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 85

Theoriebildung kann zum Begriff hinführen, sie kann in ihn einmünden wie in einen sicheren Hafen, oder sie kann von ihm ausgehen, ihn in seinen vielfältigen Facetten durchleuchten und sich gleichsam von vielen kleinen Segeln in die offene See der Erkenntnis treiben lassen. Anders ausgedrückt: Sie kann im wörtlichen Sinn ein-fältig sein und sich mit dem Blick auf das Ausschnitthafte des erkundeten Terrains begnügen, oder sie kann den Begriff selbst zur Ent-faltung bringen, seinen semantischen Hof neu vermessen und so einen Navigator gewinnen, mit dem neue Landstriche zu entdecken sind.
Genau das widerfährt im vorliegenden Band dem von Walter Benjamin nobilitierten Begriff der Passage. Jeder der neun Beiträge stellt ihm (dem jeweils gewählten point of view entsprechend) einen besonderen Wappenbrief aus, und so durchstreift der Leser eine bunte heraldische Landschaft, in der ihm eines mit Sicherheit nicht (mehr) begegnet: jener Kult des Ephemeren, für den «Passage» lediglich eine unvermeidbare Durchgangsstation auf dem Weg von A nach B bedeutet. «Passage» ist mehr als der Kitt zwischen zwei stabilen Polen, der Begriff beschreibt vielmehr ein «Übergehen, welches das Wesentliche ist und den Widerspruch enthält».
Auf diese dialektische Volte Hegels beruft sich Martin Zenck in seinem hinführenden Text, in dem er «Passage» kulturwissenschaftlich buchstabiert und so die Aufmerksamkeit des Lesers auf das interdisziplinäre Anliegen des Bandes und die mannigfachen Schnittstellen der hier publizierten Beiträge lenkt. Einen Modellfall «offener Übergängigkeit» macht Zenck in Jasper Johns’ Bild Passage (1962) aus, ein Paradigma der Transkulturalität in Klaus Hubers Bühnenwerk Schwarzerde (2001).
Die weiteren Texte thematisieren viele Facetten und Modi der «Übergängigkeit» im Umfeld einer poststrukturellen Historiografie (Susanne Kogler), im Schaffen von Liszt und Wagner (Matthew Pritchard) und in Claude Lanzmans Film Shoah (Bettina Schlüter unter Berufung auf Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild). Mit den Referenzen von Roland Barthes (Die Rauheit der Stimme) und Carolyn Abbate (Unsung Voices) leuchtet Christian Utz «Interkulturelle Pas­sagen durch die vokalen Räume zwischen Sprechstimme und Gesang»
bis hin zu Lachenmanns Musik mit Bildern aus. Johannes Menke steuert «Historisch-systematische Überlegungen zur Sequenz [als einer prototypischen Technik des Übergangs] seit 1600» bei, die als Grundlage für weitergehende interdisziplinäre Forschungen dienen können. Hans-Ulrich Fuß spürt «Hauptwege(n) und Seitenwe­ge(n) in der Sonatenexposition bei Haydn, Mozart und Beethoven» nach und formuliert Handlungskategorien (wie z. B. Versuch und Irrtum, Erreichen und Versäumen, Erfüllen und Vorenthalten), auf welche die Zielbezogenheit der Passage als Übergang verweist. Heinz von Loesch – wie Charles Rosen Musikologe und exzellenter Instrumentalist in Personalunion – thematisiert die Funktionen der Expressivität und Klanglichkeit des «Passagenwerks» in Felix Mendelssohn Bartholdys Klaviertrio op. 49, während Julia Kursell und Armin Schäfer am Beispiel der Studies for Player Piano von Conlon Nancarrow die Passage als jenen (Hör-)Raum extrapolieren, in dem sich der Übergang von der «gekerbten» zur «glatten Zeit» vollzieht.

Peter Becker