Mellnäs, Arne

Passages per orchestra / Labyrinthos – Concerto for alto saxophone and orchestra / Symphony No. 1 – Ikaros

Verlag/Label: Phono Suecia PSCD 175
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Arne Mellnäs, der einer kinderrei­-chen Stockholmer Arbeiterfamilie ent­stamm­te, gehörte der Generation schwedischer Komponisten an, die um 1960 nach Darmstadt strebte. Vor allem Ligeti hatte entscheidenden Einfluss auf seine frühen Klangwerke, mit denen er das konservative Musikleben Schwedens aufmischte.
Weil es nicht seine Art war, seine öffentlichen Funktionen zur Propagierung des eigenen Schaffens zu nutzen, kennt man seine Musik außerhalb Schwedens weniger (wo man vor allem seine Beiträge zum heimischen Chorrepertoire schätzt). Umso begrüßenswerter der Entschluss des Schwedischen Musikinformationszentrums, drei seiner Orchesterwerke in die verdienstvolle Dokumentationsreihe Phono Suecia aufzunehmen.
Passages, 1989 vom Australischen Musikzentrum bestellt, entspringt ei­nem Satz aus Walter Benjamins Passagenwerk: Eine Passage habe, wie der Traum, keine Außenseite, sondern nur ein Innen. Ein Gedanke, der die Ton­fantasie des Schweden anregte und eine fein gesponnene, hochpoetische Musik fließender Übergänge und Zwischenräume entstehen ließ. Ein paukenschlagender Weckruf hinterlässt anfangs einen kaum vernehmbaren Nachklang, der sich alsbald verbreitert und verschiedene Zustände durchläuft, bevor das Horn eine verwunschene, schwebende Feenwelt herbeisingt. Mellnäs erweist sich hier als Magier instrumentaler Tönungen und Mischungen, die an Ravel er­innern. Das Symphonieorchester des Schwedischen Rundfunks unter Esa-Pekka Salonen hüllt das Passagenwerk in zarte Klangfarbendüfte.
Eine Ohrenweide ist auch Labyrinthos, das 1998/99 entstandene Konzert für Altsaxofon und Orchester, das sich Jörgen Pettersson, Altsaxo­fonist des Stockholmer Saxofonquartetts, vom Komponisten erbat. Die drei spielvergnügten Sätze in der Charakterfolge «Drama» – «Ruhe» – «Streich», jeweils mit einer technisch wie musikalisch herausfordernden Solokadenz versehen, widersprechen einem mokanten Aperçu des Dichters Henri Michaux: «Dieser sentimentale Bonvi­vant, Saxofon genannt». Sechs thematische Gestalten gruppiert Mellnäs satzübergreifend nach dem Webmuster der «Sestine», einer provenzalischen, von den italienischen Renaissancedichtern favorisierten Gedichtform. Auf diese Weise entsteht eine Art Variationsrondo: ein kaleidoskopartiges Wechselspiel von Beibehalten und Verändern, an dem sich auch das Orchester – hier Göteborgs Symfoniker unter Marcello Viotti – angeregt beteiligt.
Inspirationsquelle seiner ersten Symphonie (1986) war ein Gedicht von Erik Lindegren, dessen Titel Mellnäs auf das fünfteilige Orchesterwerk übertrug: Ikaros. Es beschreibt atmosphärisch, wie sich dieser, absturzbedroht, dem irdischen Labyrinth und seiner Schwerkraft enthebt, den Vögeln begegnet, in den Strudel der Winde gerät und – einer «heftig lärmenden Bläue» anheimfällt. Mit Hautgoût nimmt sich die Lettische Nationalphilharmonie in Riga, geleitet von Imants Resnis, der metaphorischen Tondichtung an.
Lutz Lesle