Tsao, Ming

Pathology of Syntax

Verlag/Label: mode records, mode 268
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

In auf- und ablaufenden Flageolett-Gespinsten verfangen sich einzelne tiefere und längere Ordinario-Töne. Anschließend werden die Streichinstrumente mit Bögen und Händen geschlagen, und endlich sackt der Klang auf die tiefer gestimmte C-Saite des Violoncellos ab. Die Musik erscheint erschlafft und wie paralysiert, bevor sie mit gitarrenartigen Plektron-Schlägen nochmals Fahrt aufnimmt und schließlich mit hochenergetischem Brummen und Surren wie von unter Glas erstickten Wespen abbricht. Wie alle auf dieser CD von namhaften Interpreten mit großer gestischer Prägnanz und klanglicher Plastizität erstmalig eingespielten Kammermusikwerke von Ming Tsao aus den Jahren 2001 bis 2008 stützt sich das vom Arditti Quartet aufgeführte Streichquartett Pathology of Syntax auf eine breite Palette erweiterter Spiel- und Klangpraktiken.
Als luzide Klangfarbenmelodie beginnt Un(cover). Ein Klavieranschlag führt nahtlos in einen gedämpften Trompetenton, der sei­nerseits weiterwandert zu Posaune, Schlagzeug, Gitarre, Cello und wieder zurück ins Klavier. Die Sukzession der aquarellartig ineinanderfließenden Farben verdichtet sich zu simultanen Mixturen und statisch wiederholten Gesamtklängen, bis das Septett auf einem erneut tiefer gestimmten Cello-Liegeton seinen entropischen Endpunkt findet: ein auskomponierter Wärmetod der Musik. Das Duo Canon für Klarinette und Cello könnte man für eine Kombination aus Lachenmanns Pression und Dal niente halten, inklusive zwischen überwiegend tonlosen Aktionen plötzlich warm aufblühenden Liegetönen. Auch in The Book of Virtual Transcriptions konkretisie­ren geräuschhafte Spieltechniken die Energetik und Physis der Klänge, bis die Instrumente plötzlich umso entkörperlichter wie Orgelpfeifen tönen.
Der Musik des 1966 im kalifornischen Berkeley geborenen, heute in Berlin lebenden Komponisten chinesischer Herkunft rückt der Beihefttext mit wuchtigem Gedankengeschütz auf den Leib. Steven Takasugi verortet darin die Werke des einstigen Schülers von Chaya Czernowin und Brian Ferneyhough in einem reichlich spekulativen Koordinatensystem aus Gewalt, Erlösung, Schönheit, Rätsel, Dekonstruktivismus, Alltag, Körper, Spätstil und musique informelle. Manches davon eröffnet interessante Anknüpfungsmöglichkeiten. Anderes dagegen bleibt dem bloßen Hören verschlossen, etwa die angeblichen Verweise der beiden erstgenannten Werke Ming Tsaos auf Beethoven, des letztgenannten auf Mozart sowie des Canon auf Bachs Musikalisches Opfer. Unmittelbar erlebbar ist indes in allen Fällen, besonders in Not Reconciled, der Umschlag chirurgisch präziser Abtastvorgänge mittels Schlagen, Reiben, Blasen in hoch expressive Klangverläufe, die am Ende entweder suggestiv verebben oder wie im Sextett One-Way Street erneut in rein mechanisches Klappern eines manipulierten Vibrafon-Motors umschlagen.
Rainer Nonnenmann