Wolff, Christian

Pianist: Pieces

Verlag/Label: Sub Rosa SR389
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Christian Wolff komponiert seit den 1950er Jahren. Er war Schüler von John Cage und gilt als letztes noch lebendes Mitglied der New York School. Seine Musik ist bis heute ein Geheimtipp geblieben. Frederic Rzew­ski bezeichnete sie einmal als «klassische Musik einer unbekannten Zivilisation». Dabei ist sie fest im Leben verankert. Die Auseinandersetzung mit Christian Wolffs Musik versetzt die Interpreten in genuin unbestimmte Situationen, die aus der Gruppendynamik der Spieler resultieren. Sie fordert aufmerksames Zuhören und die Erarbeitung kooperativer Lösungsstrategien für musikalische Probleme. Wolff simuliert mit seinen Kompositionen die Triebkräfte des Sozialen – eine experimentelle Arbeitsweise, die pädagogische wie auch politische Qualitäten aufweist.
Die vorliegende CD kompiliert Solostücke für Klavier aus unterschiedlichen Schaffensperioden, die alle von dem Pianisten Philip Thomas interpretiert werden, der neben Sabine Liebner zu den bekanntesten Interpreten von Wolffs Klaviermusik zählt. Auf der ersten CD befinden sich Einspielungen von frühen Kompositionen, die aus den 1950er Jahren stammen. Da ein solistisches Setting keine sozialen Interaktionen ermöglicht, die über den Verlauf der Komposition bestimmen, macht Wolff in dem Stück For Pianist (1959) die Handlungen des Interpreten selbst zum Indikator für die Gestaltung der Musik. Der Interpret hat unter anderem die Aufgabe, einen Klang so leise wie möglich zu spielen oder von einem sehr tiefen zu einem sehr hohen Ton zu springen. Er kann zu hoch greifen, zu tief oder den Ton genau treffen – dieses System katapultiert den Spieler in ein offenes Setting, das im Vorhinein nicht ausnotiert werden kann. Je nach Ergebnis gibt die Komposition alternative Fortgänge vor, denen der Interpret unverzüglich zu folgen hat und die ihn in hochgradig komplexe Situationen verstricken können. Philip Thomas steht mit seiner virtuosen Interpretation David Tudor in nichts nach, für den das Stück ursprünglich komponiert wurde.
Auf der zweiten CD befindet sich Christian Wolffs bislang längste Komposition für Klavier. Long Piano wurde 2004/05 komponiert. Obwohl die Partitur auch unbestimmte Passagen aufweist, besteht das Stück größtenteils aus auskomponierten Miniatu­ren, insgesamt 95 Stück inklusive eines Intros. Die Länge der einzelnen «Patches» variiert zwischen sekundenlangen Skizzen und mehrminütigen Partien. So entsteht ein musikalisches Patchwork zwischen einfachen Melodien, Stille und komplexen Klangwucherungen.
Den Abschluss bilden fünf Kompositionen aus jüngster Zeit, unter denen sich Ersteinspielungen befinden, die Nocturnes 1–6 und die Small Preludes, Kompositionen, die radikal offen sind, deren einzelne Abschnitte frei variiert und in unterschiedlichen Notenschlüsseln gelesen werden können. Diese Form von Notation ist für Wolff nicht ungewöhnlich. Sie gibt dem Interpreten Freiheit und Verantwortung und schafft klingende Momentaufnahmen von poetischer Schönheit.
Raphael Smarzoch