Bryars, Gavin

Piano Concerto («The Solway Canal») / After Handel’s Vesper / Ramble on Cortona

Verlag/Label: Naxos 8.572570
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 89

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 2
Gesamtwertung: 3

Der Engländer Gavin Bryars, Jahrgang 1943, begann seine Laufbahn als Jazz-Bassist, arbeitete in den 1960er Jahren mit John Cage zusammen und betätigte sich dann extensiv in der experimentellen Musikszene seines Heimatlandes, gemeinsam u. a. mit Cornelius Cardew. Mit seinen beiden Ensemblewerken The Sinking of the Titanic und Jesus’ Blood Never Failed Me Yet erntete er 1969 bzw. 1971 großen Erfolg, und noch immer zählen diese Kompositionen zu Bryars’ meist aufgeführten bzw. eingespielten – von Jesus’ Blood existiert sogar eine Aufnahme, in der Tom Waits den Vokalpart singt. Diese Tatsache lässt schon darauf schließen, dass Bryars – ungeachtet seines experimentellen Hintergrundes – mit Genregrenzen und Regeln der Avantgarde wenig zu schaffen hat.
In den letzten Jahren widmete sich Bryars vornehmlich den Querverbindungen zwischen Alter und zeitgenössischer Musik. Auf die Musik vergangener Jahrhunderte beziehen sich auch die beiden auf der vorliegenden CD eingespielten Solo-Klavierwerke: After Handel’s Vesper, 1995 ursprünglich für Cembalo komponiert, findet seinen Anknüpfungspunkt – der Titel verrät es – bei Händel; die Quellen des erst 2010 geschriebenen Ramble on Cortona liegen in Vokalmusik des 13. Jahrhunderts. Nicht dass diese Inspirationen in der Musik der Stücke jemals deutlich hörbar wären: Bryars komponiert eine langsam fortschreitende, statisch anmutende Musik, die man mit ihren dominanten Arpeggien wohl als post-minimalistisch bezeichnen könnte und deren gelegentlich impressionistisch gefärbte, meist jedoch in melancholischem Moll versunkene Harmonik von Ferne Bryars’ Herkunft aus dem Jazz verrät. Minimalismus hin oder her: letztlich «passiert» jedoch zu wenig im Ablauf dieser Werke, das die Aufmerksamkeit des Hörers gefangen nehmen könnte – zumindest nicht über die Dauer von jeweils ungefähr zwölf Minuten hinweg. Der Schritt zu New Age-gefärbter Meditationsmusik ist – völlig ungeachtet der von Bryars benutzten Kompositionstechnik – gefährlich nahe.
Etwas anders liegt der Fall in The Solway Canal, einem ausdrücklich so bezeichneten Klavierkonzert, in dem ein Männerchor Bryars’ Vertonungen Gedichten des schottischen Dichters Edwin Morgan vorträgt. Der Chor bereichert die durchweg dunkel gefärbte Klangwelt des Werks auf gewinnende, wenn auch nicht unbedingt zwingende Weise, während der Klavierpart sich geradezu provozierend unspektakulär gibt, das orchestrale Geschehen meist nur begleitet bzw. kommentiert. Ein vorwiegend melancholischer Grundcharakter und langsame harmonische Fortschreitungen bestimmen auch hier das Bild, doch die komplexere Harmonik und das gleichsam surreale Dahingleiten der Komposition eröffnen bei mehrma­ligem Hören mehr – zum Teil auch unerwartete – Perspektiven als die beiden Solostücke. Der niederländische Pianist Ralph van Raat, Widmungsträger des Konzerts sowie von Ramble on Cortona, erweist sich als engagierter und gewissenhafter Interpret der Musik und verfasste auch den (leider nur englischen) Beihefttext.
Thomas Schulz