Enescu, George

Piano Sonata No. 1 / Pièces impromptues / Suite No. 2

Verlag/Label: Naxos 8. 572120
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 3
Repertoirewert: 5
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Der Name George Enescu hat für die Rumänen einen ähnlichen Klang wie Béla Bartók für die Ungarn, Pancho Vladigerov für die Bulgaren, Jean Sibelius für die Finnen oder Carl Nielsen für die Dänen. Was diese Komponisten bei aller Verschiedenheit ihres Personalstils verbindet, ist die Tatsache, dass ihr Schaffen und Wirken jeweils als Meilenstein einer nationalen Musikkultur ihres Landes gilt – ein Begriff, dessen Kurswert an der Börse des globalen Dorfs allerdings rasch verfällt. Was den ästhetischen Rang ihres Œuvres nicht mindert.
Außer Bartók erfuhren alle ihre Ausbildung in Deutschland, Österreich und/oder Frankreich. Ihr dort erworbenes Kunstvermögen ließen sie auf heimischem Boden fruchten. Wäh­rend Vladigerov, der in Berlin studierte und Mitarbeiter am Deutschen Theater Max Reinhardts wurde, außerhalb Bulgariens kaum bekannt ist, dürfte Enescu mittlerweile auch jüngeren Westeuropäern ein Begriff sein. Nicht zuletzt dank der CD-Edition, die das entdeckungsfreudige Label Naxos dem Lebenswerk des Rumänen widmet. In einer Reihe von Aufnahmen brachte Naxos ein repräsentatives Schaffensporträt Enescus auf den Markt, das der junge rumänische, in New York ansässige Pianist Matei Varga kürzlich um eine brillante Facette erweiterte.
Enescus Klavierspiel stand seiner großen Violinkunst kaum nach. Zeitzeugen bewunderten die geschmeidige Eleganz und Intensität seines Vortrags. Sein Gesellenstück auf dem Felde der Klavierkomposition entspringt seiner Bach-Begeisterung, die er mit Max Reger wie auch mit Claude Debussy und Maurice Ravel teilte (man denke an Debussys Suite Pour le piano oder Ravels Pavane pour une Infante défunte): die Suite No. 2 in D-Dur op. 10 in vier Sätzen (1903). Der ausschweifenden, wirkmächtigen «Toccata» folgt eine anmutige «Sarabande», die in ihrer arabes­kenhaften Galanterie sowohl an Chopin als auch an Debussy erinnert. Pfauenartig schreitend und höfisch knicksend die «Pavane». Die imitatorisch durchwirkte «Bourrée» vollführt einen ausgelassenen Tanzreigen mit etwas reißerischem Schluss.
Aus den sieben Pièces impromptues op. 18, zwischen 1913 und 1918 geschrieben, wählte Matai Varga die Nummern 6 und 7, «Choral» und «Carillon nocturne». Mäßig bewegt, im Charakter getragen, frei im Met­rum, melodisch weit ausschwingend, mollgefärbt und mixturengeschärft der altkirchliche Gesang. Im nächtlichen Glockenspiel scheint Messiaens Kirchenfensterstil vorausgeahnt – ein Komponieren mit Klangfarben und Farbklängen, deren Ränder leicht verschwimmen (kraft verminderter und übermäßiger Oktaven).
1924 – während seiner Arbeit an der lyrischen Tragödie Oedipe (Ödipus) – entstand die Klaviersonate op. 24,1. Ihr gemessen fließender Kopfsatz gleicht harmonisch einem Vexierspiel. Das Perpetuum mobile des raschen Mittelsatzes ist eine forsch gestanzte Rhythmusstudie. Das abschlie­ßende «Andante molto espressivo» lässt an die ebene Donaulandschaft Südrumäniens denken, wenn nicht gar an Debussys Prélude La Cathédrale engloutie. Mit Hautgout und Raffinement versenkt sich Matei Varga in die impressionistisch getönte Klavierwelt seines großen Landsmanns.
Lutz Lesle