Newman, Chris

Piano Sonatas

Verlag/Label: mode 201
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

 

Der britische, derzeit in Berlin arbeitende Komponist, Autor, Maler und Installationskünstler Chris Newman betätigt sich in seinen Malereien gern mal als verschlagener «Kopist», der kunsthistorisches Allgemeingut nach seinen eigenen Maßgaben zerhackstückt, um völlig neue Zusammenhänge herzustellen. Auch in seiner Musik greift der einstige Kagel-Schüler mit Vorliebe auf geschichtsträchtige Stoffe zurück. Seine Klaviersonaten präsentieren in dieser Hinsicht eine denkbar extreme Aneignung von Fremdmaterial.
In der ersten Klaviersonate (1982) sind es die Vorklassik, Beethoven, Janácek und Ives, mit deren stilis­tischen Eigenheiten sich Newman gewandt kostümiert, insbesondere was das romantische Odeur virtuoser Klaviermusik betrifft: ein radikaler, immer leicht angeschrägter und latent subversiver Eklektizismus, der «Geschichte als eine Art Festkörper» (Newman) begreift. Dass dieses pianistische Mimikri alles andere als unreflektiert oder gar epigonal daherkommt, wird allerspätestens dann klar, wenn Finnissy sein Spiel im letzten Satz mit brüchiger Stimme grotesk flankiert.
In der Sonate Nr. 4 (1990) ist die Arbeit mit historischen Versatzstücken schließlich von unverstellter Konkretheit, wo «die Musik mit sich selbst interagiert, ohne dass das eigentliche Material selbst verändert wird». Im Detail bedeutet dies, dass die gewohnten strukturellen Verhältnisse einer Sonate von Carl Philipp Emanuel Bach außer Kraft gesetzt sind, indem die Stimmen der linken und rechten Hand leicht gegeneinander verschoben werden.
Auf einer Kollidierung völlig verschiedenen Materials fußt Newmans sechster Gattungsbeitrag, der die rechte Hand von Beethovens op. 90 mit der Unterstimme von Newmans 3. Sinfonie kombiniert. «In diesem Fall ist es, als ob Beethoven gezwungen wäre, mit meinen Beinen zu gehen und ich forciert wäre, mit seinem Torso zu gehen», erklärt Newman. Es ist jedenfalls erstaunlich, wie dieses Spiel mit Abhängigkeiten bei aller sympathischen Widerborstigkeit der Oberfläche funktioniert und das Zusammenwirken der Sphären eine ganz neue, dritte Bedeutungsebene erzeugt.
Newmans raumgreifende Klavier­sonate Nr. 10 (2004) treibt das Prinzip der «Patchwork-Komposition» und ihrem Vexierspiel von Vertrautheit und Fremde nochmals auf die Spitze. Sie mixt den Rhythmus von Varèses Amériques mit Tonhöhen von Schubert-Liedern. Was dabei herauskommt, klingt jedoch wenig absurd und übers Knie gebrochen, sondern auf seine Weise verblüffend homogen!
Michael Finnissy, als Komponist und Pianist mit der britischen Musik bestens vertraut, weiß genau, dass diese skulpturale Musik eine gleichmäßige Akzentuierung von plastischer Schärfe benötigt, denn es gibt eigentlich nichts Wichtiges und Unwichtiges in ihr!

Dirk Wieschollek