Bill Wells & Stefan Schneider

Pianotapes

Verlag/Label: Karaoke Kalk CD 56
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 89

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Seit die Elektronik mehr und mehr die populäre Musik bestimmt, versucht der Jazz eine musikalische Antwort auf die technologische Herausforderung zu finden. Mit dem Laptop hat inzwischen ein digitales Instrument Einzug in die improvisierte Musik gehalten, das sich nicht einfach ins konventionelle Instrumentarium einreiht, sondern es vielmehr mit digitalen Sounds umspült oder elektronisch spiegelt. Doch trotz aller Innovations­dynamik: Auf den großen konzeptionellen Durchbruch wartet man bisher vergeblich. Zu einer echten Transformation des Jazz hat die digitale Revolution (noch) nicht geführt, im besten Fall zu Jazz plus Elektronik, nicht zu elektronischem Jazz.
Der schottische Jazzpianist Bill Wells und der Düsseldorfer Elektroniker Stefan Schneider bewegen sich im Spannungsfeld zwischen akustischen und digitalen Sounds. Sie haben ein Konzept entwickelt, das einem radikalisierten Remix-Verfahren gleichkommt, welches sie auf die freie Improvisation anwenden.
Wells ist einer der Doyens der Glasgower Jazzszene, ein Freigeist, der sich durch diverse Kooperationen auch in Pop- und Rockzirkeln empfohlen hat. Sein Spiel auf dem Piano ist nicht von den Floskeln der Jazz­tradition bestimmt, sondern fühlt sich luftig, ungebunden, flüssig und gelöst an. Wells pendelt zwischen feinnervigen Melodien, dichteren Clustern und elegischen Akkorden, wobei sein Stegreifspiel oft träumerisch-versponnen klingt, aber auch dissonante Konturen kennt. In ruhiger Gangart spinnt er den melodischen Faden fort, lässt viel Raum für Pausen und Nachhall, den Schneider für seine elektronische Verfremdungskunst zu nutzen weiß.
Schneider hat als Mitglied der Gruppe «To Rococo Rot» reichlich Erfahrung im Elektro-Pop-Bereich ge­sammelt, verfolgt aber unter dem Na­men «Mapstation» auch eigene Elek­tronik-Projekte. Mit zwei Tonbandgeräten hat der Düsseldorfer hier zuerst die Piano-Improvisationen aufgezeichnet, danach das Material in einem Edition- und Re-Work-Prozess neu gemischt, umstrukturiert, verfremdet, verzerrt, verdoppelt, gespiegelt, verlangsamt, manipuliert, nach vorne geholt oder nach hinten geschoben, und – wo es nötig erschien – mit feinen Synthesizerklängen unterlegt. Auf diese Weise entsteht ein höchst sensibler und hoch reaktiver Echo- und Klangraum, der die Piano-Improvisationen in ein interessantes Ambiente stellt und sie in ganz neuem Licht erscheinen lässt – aufregend!
Christoph Wagner