Schönberg, Arnold

Pierrot lunaire

Dreimal sieben Gedichte nach Albert Giraud op. 21

Verlag/Label: WERGO studio reihe WER 67782
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

«O alter Duft – aus Märchenzeit»: Der letzte Vers des Gedichtzyklus, den Ar­nold Schönberg 1912 als Melodram vertonte, behauptet sich wie ein Statement zum gesamten Werk und als eine synchron zur Musik eingerichtete Interpretationsanweisung. In diesen fünf Worten liegt das We­sen des Textes – ein markantes Beispiel für den literarischen Symbolismus, der am Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenposition zum Realismus und Naturalismus so etwas wie eine ästhetische Antihaltung einnahm.
Ursprünglich, das heißt vor dem 19. Jahrhundert, positionierte sich das Melodram noch aus der Verbindung von Musik und tänzerischen sowie pantomimischen Elementen. Georg Anton Benda und Peter von Winter, zwei ausgewiesene Melodramatiker, forcierten diese Kunstform, die nach den von Wagner popularisierten Musikdramen schließlich auch von den Neutönern um Schönberg oder Berg gestaltet wurde. Arnold Schönberg wählte 21 Gedichte des symbolistischen bel­gischen Schriftstellers Albert Giraud (Pierrot lunaire: Rondels bergamasques), die er unter dem Titel Pierrot Lunaire – Dreimal sieben Gedichte nach Albert Giraud op. 21 für Sprechstimme, Klavier sowie Blas- und Streichinstrumente in Töne umwandelte. Als Textgrundlage benutzte Schönberg die freie deutsche Übersetzung von Otto Erich Hartleben.
Dieses «Peterchen» erlebt einen Mond als der Erde gegenübergestellte Metapher in vielfältigen Gestalten und Tätigkeiten, dieser «Pierrot mit dem wächsernen Antlitz», wie es bei Giraud heißt, verspürt Heimweh und Gemeinheit, ist «mondestrunken» und labt sich am Galgenlied. Obwohl die seinerzeit angesagten Komponisten sich radikal vom Kontrapunkt losgesagt hatten, lebe «die gesamte kontrapunktische Tradition der Vergangenheit» wieder auf, wie Helmut Kirchmeyer in einem Text von 1912 schrieb, der im üppigen Booklet der CD-Veröffentlichung abgedruckt ist. Pierre Boulez nahm 1961 in einem Pariser Studio das 32 Minuten dauernde Werk auf, das zwei Jahre später als erste LP des WERGO-Labels veröffentlicht wurde. Ingo Schmidt-Lucas restaurierte 2012 im Auftrag von WERGO die nun vorliegende Aufnahme, die bisher nicht auf CD zu hören war, und unterzog sie einem technischen CD-Mastering.
Schönberg benötigte nur etwa zweieinhalb Monate für die Komposition des Pierrot. Sich (auch) lustig zu machen durchdringt bei allem ernsthaften Gestus die insbesondere vom Klavier übernommenen Partien, in denen der von Helga Pilarczyk vorgetragene Sprechgesang flötenumwirbelt die Zeilen aufbricht. In dramatischen Brechungen zersägen die Geigen das akustische Gerüst der Komposition und bieten dem Sprechgesang eine tragfähige Basis. Die nicht mehr tonale, aber noch nicht in der Zwölftontechnik ausgeführte Komposition – uraufgeführt im Choralion-Saal in Berlin – fand damals eine zwiespältige Resonanz. Was seinerzeit als Disharmonie wahrgenommen wurde und den Gewohnheitsgeschmack des Publikums ankratzte, zeigt sich in der von Boulez dirigierten Aufnahme als in die Tiefe gehendes und aus ihr als kompakte Klangarbeit wieder heraustretendes spektakuläres Werk.    

Klaus Hübner