Vasks, Peteris

Plainscapes

Verlag/Label: Ondine ODE 1194-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

«Die meisten Menschen heute besitzen keinen Glauben, keine Liebe und keine Ideale mehr. Die spirituelle Dimension ist verloren gegangen. Meine Absicht ist es, Nahrung für die Seele zu schaffen, und eben dies predige ich in meinen Werken.» Das Selbstverständnis des lettischen Komponisten Peteris Vasks ist human-ethisch geprägt. Der Pfarrersohn aus Kurland ist ein Prediger in Tönen. Der teils emphatische, teils meditative, panreligiöse Grundton seiner Musik entspringt einer glühenden «Mut­ter­landsliebe». Kraftquell des geknechteten Volks war über Jahrhunderte sein Liederschatz. Für Chöre zu kom­po­nie­ren, ist für Vasks Herzenssache.
Ein Jahrzehnt nach Erscheinen der ersten CD mit weltlicher Chormusik und fünf Jahre nach Einspielung dreier geistlicher Chorwerke ergänzt der Lettische Radiochor nun sein diesbezügliches Repertoire in zwei Richtungen: zum einen enthält die neue CD A cappella-Werke aus den 1970er und -80er Jahren, die Vasks in jüngerer Zeit mehrheitlich überarbeitete, zum anderen zwei längere Stücke für Chor mit Instru­menten. Die Leitung hat wiederum Sig­vards Klava, Chefdirigent des mit wunderbaren Stimmen gesegneten Rundfunkchors. Ihm zu lauschen, ist Balsam für Ohr und Seele.
Das Beiheft bietet ein aufschlussreiches Gespräch, das Inara Jakubone, die Leiterin des Lettischen Musikinformationszentrums in Riga, mit dem Komponisten führte. Themen sind die Volks­musik Lettlands, die Drangsalierung seiner Dichter und Dichtung in den Okkupationsjahren, die Bild- und Motivwelt lettischer Lyrik und die Wege, auf denen sich Vasks ihrer (notgedrungen) äsopischen Sprache musikalisch zu nähern versucht.
Die Werkfolge wechselt geschickt zwischen schlicht-traditionell gehaltenen, gleichwohl apart getönten Chorsätzen und teils balladesk, teils rituell anmutenden Chorszenen, die sich modernerer Stilmittel bedienen. Einem Mahnmal gleich beginnt das lettisch gesungene, doch englisch betitelte und kommentierte Programm mit The Tomtit’s Message. Die «Botschaft der Meise» steckt in einem sechszeiligen Prosagedicht von Uldis Berzinš. Es rührt an die Tragödie eines Volkes, dessen Söhne «fremden Mächten als Kanonenfutter dienen» (Vasks).
Eher bedachtsam vertont Vasks das dramatische Gedicht Our Mothers’ Na­mes von Maris Caklais. Es ruft die Mütter – Nachklang baltischer, matriarchalisch geprägter Mythologie? – bei ihren Vogelnamen (Buchfink, Rebhuhn, Bachstelze …). Vögel galten als Geheimnisträger. Darum warnt der Dichter am Ende, Baumspitzen zu kappen: «Lasst sie den Vögeln.» Eine Mahnung, die Vasks nachdrücklich aufnimmt.
Die titelgebende Komposition Plain­scapes, die auf die Ebenen Semgallens anspielt, ist für Vasks Chorschaffen insofern untypisch, als sie sich auf Vokalisen beschränkt und Violine und Violoncello hinzuzieht. Dreimal singt der Chor eine leicht abgewandelte Elegie: Vorspiel einer klangmagischen Wiedergeburtsfeier der Na­tur mit Sonnenaufgang und Vogelgesang. Um die Geburt der Seelenspenderin Sonne kreist das Gedicht Piedzimšana von Inese Zandere, das Vasks 2008 zu einer hymnischen Huldigung für gemischten Chor und große Trommel inspirierte: Birth. Sie zitiert den kupfernen Sonnenwagen der altnordischen Göttin Sól herbei.

Lutz Lesle