Henze, Hans Werner

Pollicino

Märchen für Musik

Verlag/Label: Belvedere 10140
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 80

Eine Neigung zum Lehrstück und zur Parabel ist Hans Werner Henzes Schaffen seit den 1960er Jahren immanent. Das hängt mit seinen Vorstellungen einer politischen Ästhetik und einer Musik, die aufklärend wirken soll, zusammen. Besonders deutlich zeigt sich das etwa in Stücken wie den Moralities, drei szenischen Kantaten über Texte von W. H. Auden nach Aesop von 1967, und in Musiktheaterwerken wie La Cubana, Die Englische Katze und in der späten Oper für Jugendliche Gisela! oder die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks.
Auch Pollicino gehört in diesen Kontext. Komponiert 1979/80 für den Cantiere Internazionale d’Arte, sein Musikfestival in der Toskana, und ebendort 1980 uraufgeführt, ist dieses «Märchen für Musik» ein Bühnenstück für Kinder und Erwachsene. Das meint sowohl Zuhörer als auch Ausführende: Im Zentrum stehen zwei Gruppen von je sieben Buben und Mädchen, und auch die Hauptrolle ist für Knaben­sopran geschrieben.
Pollicino ist auf Deutsch der «Däumling», und auf dem gleichnamigen Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm basiert auch Henzes Stück. Es geht um eine arme Familie mit sieben Kindern, und weil er ihnen nichts mehr zu essen geben kann, beschließt der Vater, sie im Wald auszusetzen und dort verhungern zu lassen. Die Mutter duldet es jammernd. Im Wald finden die Kinder zunächst die Unterstützung der Tiere und geraten dann in die Fänge eines Menschenfressers, dem sie aber zusammen mit dessen sieben Töchtern entfliehen können. Auf der Flucht durch die Wildnis lernen sie, dass Solidarität und Liebe stark machen.
Henzes Kinderoper ist mehr als der Versuch, ein merkwürdiges Märchen aus alter Zeit mit einer Veroperung wiederzubeleben. Hinter der brutalen Geschichte verbirgt sich wohl mehr Autobiografie, als es im ersten Moment den Anschein macht. Den Verrat der Eltern an den Kindern, Trauma einer ganzen deutschen Generation, hat Henze am eigenen Leib erfahren; als jugendlicher Soldat in den letzten Ta­gen des Nazireichs erlebte er, wie eine verbohrte Elterngeneration die eigenen Kinder in den Tod schickte. Die Szene im Wald, wenn die Tiere den Kindern ihre Hilfe anbieten und sich der Wolf als humaner erweist als der Mensch, verweist auf das zutiefst pessimistische Menschenbild, das hinter dieser Naturidylle verborgen liegt. Auf die Menschen ist kein Verlass mehr, und überleben kann der Ausgesetzte nur, wenn er sich mit Seinesgleichen zusammentut in der vagen Hoffnung, dass daraus vielleicht Zukunft entsteht.
Henze und sein Librettist Giuseppe di Leva haben ihre hohe Professionalität ganz in den Dienst der Verständlichkeit gestellt. Die Geschichte wird in einer Folge von kurzen, klar umrissenenen Szenen erzählt, die Musiksprache ist einfach, ohne sich anzubiedern, und erreicht mit knappen Mitteln eine präzise Charakterisierung der Rollen. Ein pluralistischer Stil herrscht vor, italienisch-volksliedhafte Idiome stehen ne­ben Szenenmusiken mit frei-improvi­satorischem Charakter und illustrativen Geräuschen. Im funktionalen Einsatz der unterschiedlichen musikalischen Sprechweisen ist der Einfluss von Hanns Eisler erkennbar.
Die Produktion der Wiener Staatsoper geht auf einfühlsame und völlig unangestrengte Weise auf die Besonderheiten dieser Kinderoper ein. Der einfache Realismus der Szenenbilder und die fantasievollen Kostüme und Tiermasken von Maria-Elena Amos sorgen für die passende Märchen­atmosphäre. Der Regie gelingt es, Kinder und professionelle Erwachsene zu einem harmonischen Ensemble zu verschmelzen. Unter den Kindern ragen Mattheus Sinko in der Hauptrolle des Pollicino und das älteste der sieben Mädchen, die bereits bühnenerfahrene Clarisse Jähn, hervor. Glanzrollen haben der Bassist Andreas Hörl als Menschenfresser und Simina Ivan als seine Frau, Hans Peter Kammerer und Caroline Wenborne überzeugen in der schwierigen Rolle der hartherzigen Eltern. Unter der Leitung von Gerrit Prießnitz spielen das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper und das Orchester des Musikgymnasiums Neustiftgasse. Eine solche Zusammenarbeit von jungen Laien und professionellen Erwachsenen hat Henze in vielen musikpädagogischen Projekten angestrebt. Am künstlerisch rundum geglückten Resultat der Wiener Produktion hätte er zweifellos seine helle Freude gehabt.

Max Nyffeler