Hiekel, Jörn Peter (Hg.)
Populär vs. elitär?
Wertvorstellungen und Popularisierungen der Musik heute
Ist es in Zeiten der omnipräsenten Digitalisierung überhaupt noch angebracht, in Begriffen wie «elitär» und «populär» zu denken? Handelt es sich bei Überlegungen dieser Art nicht um Grabenkämpfe, die nicht mehr zeitgemäß sind und schon längst durch die Verschmelzung von materieller und virtueller Welt für obsolet erklärt worden sind? Eine Auseinandersetzung mit der Dichotomie «populär/elitär» sollte diese Fragen im Hinterkopf behalten.
Michael Schmidt erkennt richtig, dass digitale Netzwerke Musik im Jenseits von «Raum und Zeit» situieren und damit auch Hierarchisierungen in Frage stellen «alles ist auf einmal vorhanden». Diese everything time schafft ästhetische Phänomene und künstlerische Möglichkeiten, die noch im Begriff sind, ausgelotet zu werden. Sie fordert aber auch eine neue Sprache ein, ein Vokabular, das nicht mehr auf Begriffe wie Remix, Sampling oder Collage rekurriert, sprachliche und konzeptionelle Relikte des analogen Zeitalters bedient, einer Periode, in der auch Schmidts Posterboy DJ Spooky seine größten Erfolge feierte.
Für Harry Lehmann führt die Digitalisierung zu einer «Demokratisierung der Produktions- und Distributionsmittel in der neuen Musik» und damit zu einer Auflösung von Institutionsbindungen. Kompositionen, die darauf abzielen, «den Graben zwischen populär und elitär [zu] überbrücken», seien durch die Verwendung digitaler Medien leicht zu realisieren. Eine schöne Vorstellung, in der Lehmann allerdings ein Problem sieht. Das Gegensatzpaar «elitär/populär» etabliert in der neuen Musik eine Leitdifferenz, die wegfällt und in einen Identitätsverlust bzw. fehlendes Selbstverständnis mündet.
Dahlia Borsche geht in ihrem Beitrag der Unbestimmbarkeit des Elitären und Populären am Beispiel von Lou Reeds Metal Machine Music nach, einer Feedbackstudie, die der Popmusiker 1975 veröffentlichte. Das Werk wurde ambivalent rezipiert und 2007 vom zeitkratzer-Ensemble mit akustischen Instrumenten neu eingespielt. «Ist die zeitkratzer-Version elitär, weil sie im Kontext der neuen Musik entstanden ist, oder populär, weil sie nicht das traditionelle Neue-Musik-Publikum anspricht?» eine Frage, die kaum beantwortbar ist.
Komponist Markus Hechtle berichtet von einer Begegnung mit dem mittlerweile verstorbenen «Oliver Steinert», der auch Komponist gewesen sein soll. Es scheint, als spiele Hechtle hier mit den Mechanismen des Fake, die auch gerne in der Popkultur zum Einsatz kommen, nicht zuletzt um elitäre und populäre Strukturen gegeneinander auszuspielen. Steinert ist offenbar eine erfundene Persönlichkeit, die Adorno zitiert, zur alten Schule der neuen Musik gehört und gegen «die vorherrschende und [
] voranschreitende Regression» kämpft. Hechtle, der hier als Schriftsteller in Erscheinung tritt, hält dem alten Komponisten entgegen, die neue Musik sei an ihrer Isolation selbst Schuld und hielte ihre elitäre Grundhaltung «als Identität stiftendes Moment» aufrecht. Damit liefert er keine neuen Einsichten, der Text ist trotzdem sehr unterhaltsam zu lesen.
Raphael Smarzoch