Porträt Oliver Schneller

Aqua Vit / Trio / Five Imaginary Spaces / Resonant Space / Stratigraphie I und II

Verlag/Label: Wergo, Edition zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, WER 65792
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 91

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Oliver Schneller ist ein Klangsammler. Sein Aufnahmegerät hat er immer dabei. Wenn es mal nicht in Reichweite sein sollte, versucht er sich einfach an das Gehörte zu erinnern. Für das Stück Aqua Vit hat er Wasserklänge eines Waldbachs in Pennsylvania verwendet, die er mit einem Computerprogramm analysiert und anschließend auf ein konventionelles Instrumentarium übertragen hat. Dem Komponisten geht es um ein Spiel mit Referenzen. Man könnte auch von akustischen Rätseln sprechen. Denn der Herkunftsklang ist nicht immer herauszuhören. Manchmal erahnt man ihn in den fließenden Bewegungen der Musik. Dann verliert er sich wieder in abstrakten Strukturen.
Der 1966 in Köln geborene Komponist versteht seine Musik als Kartografie, als Medium zur Dokumentation und Lokalisierung von Klang­ereignissen. Dieses Denken ist bio­grafisch motiviert. Als Sohn eines Diplomatenpaares bereiste Schneller die ganze Welt, lebte jeweils mehrere Jahre in Deutschland, Irland, Belgien, im Sudan und auf den Philippinen. Immer wieder musste er sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden, neue Erfahrungen machen. Diese Beweglichkeit spürt man auch in seinen Kompositionen, zum Beispiel in dem Stück Five Imaginary Spaces. Diese musikalischen Imaginationsräume gestaltet er mit einem komplizierten Zusammenspiel zwischen Live-Elektronik und Klavier. Die Computerklänge durchkreuzen das virtuose Spiel der Pianistin Heather O’Donnell, kollidieren brutal mit den schnellen Melodieläufen und scharfkantigen Akkordclustern. Man meint das Geräusch zerbrechender Glasscheiben zu hören.
Obwohl die Musik des Kosmopoliten, der in Bonn Musikwissenschaft, Geschichte und Politik studiert hat, von einer expressiven Vitalität geprägt ist, wirkt sie niemals unübersichtlich oder chaotisch, sondern sorgfältig geplant und elegant realisiert. Das liegt auch an der hervorragenden Leistung der Instrumentalisten, die souverän die schwierigen Partituren interpretieren. Gekonnt arbeitet sich zum Beispiel das Ensemble Mosaik in Resonant Space durch ein vertracktes Gewebe aus Live-Elektronik, Klavier und Perkussion, um anschließend in der Komposition Trio auszuruhen, dem Nachhall der Klänge zu lauschen.
Bei einem Aufenthalt in Rom besuchte Oliver Schneller den Monte Testaccio, einen Hügel, der ausschließ­lich aus antiken Scherben besteht. «Wir stehen auf Schichten der Vergangenheit», schreibt er im Werkkommentar. Seine Erinnerungen an diesen Ort verarbeitet er in dem Stück Stratigraphie. Diese Komposition ist nicht nur eine raffiniert arrangierte Zusammenstellung unterschiedlicher Klangschichten aus Streich- und Blasinstrumenten, die sich kontrapunktisch und harmonisch gegeneinander verschieben, sondern auch eine Meditation über den Verlauf der Zeit. Dabei blickt der Komponist allerdings nicht zurück. Er schwelgt nicht im Vergangenen. Seine akustische Archäologie ist zukunftsgerichtet, greifbar und lebendig.

Raphael Smarzoch