Precipitando

Werke von Alban Berg, Leoš Janácek und Franz Liszt

Verlag/Label: ECM New Series 2247
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 2

Der ungarische Pianist Dénes Várjon ist in visionärer Klaviermusik aus «Spätromantik» und früher «Moderne» ganz in seinem Element. Von Alban Berg und Leoš Janác?ek schlägt er den Bogen zurück zu Franz Liszt, der einige Jahrzehnte zuvor als Tastenlöwe, Komponist und Musiktheoretiker das Tor zum musikalischen Neuland weit aufgestoßen hatte. Dramaturgisch geschickt setzte Várjon die eigentümlich zwischen Tradition und Utopie schwebende Klaviersonate Bergs an den Anfang, um nach Janác?eks melancholisch eingefärbten Nebelschleiern mit Liszts
h-Moll-Sonate einen Parforceritt zwischen brillanter Virtuosität und kristalliner Stringenz auszuführen.
Mit seiner einsätzigen Sonate op. 1 beendete Berg 1908 seinen Unterricht bei Arnold Schönberg. Ursprünglich wollte er ein dreisätziges Werk schreiben, doch gestand er das Fehlen von Ideen für weitere Sätze ein. «Nun, dann haben Sie eben alles gesagt, was zu sa­gen war», lautete Schönbergs Antwort an den um Rat fragenden Schüler. Zu «sagen» hatte Berg in dem einen Satz in­des unsagbar viel: Aus wenigen Keim­zellen entwickelt sich an der Schwelle zur «Atonalität» ein gewaltiger melodischer und harmonischer Reichtum. Eindringlich vor Ohren führt die Interpretation zumal das prägende Spannungsverhältnis zwischen poetischer Intensität und deren konzentrierter Ein­bindung in ein strenges Gerüst.
Auch in Leoš Janác?eks vierteiligem Klavierzyklus V mlhách («In den Nebeln») genießt es Várjon, das Suchen und Tasten des mährischen Komponisten nach neuen Ausdrucksformen bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Geborgenheit im heimatlichen Folklore­repertoire auszuloten. Vom Erfolg seiner späten Jahre war Janác?ek 1912 noch weit entfernt. Den Grundstein für die Ausformung eines radikal eigenständigen, eng an Melodik und Rhythmik seiner Muttersprache angelehnten Tonfalls hatte er aber gelegt. Statt die verblüffende Schlichtheit der vier Stücke, ihre lyrische Intimität und unterschwel­lige Expressivität, pathetisch aufzuladen, lässt Várjon jedes Motiv plastisch hervortreten.
Schon Liszt brach mit Konventionen, was dem scharfzüngigen Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick nicht entging. Besonders hart fiel sein Urteil über die h-Moll-Sonate (1852/53) aus: Sie sei «eine Genialitätsdampfmühle, die fast immer leer geht – ein fast unausführbares musikalisches Unwesen. Nie habe ich ein raffinierteres, frecheres Aneinanderfügen der disparaten Elemente erlebt – einen so blutigen Kampf gegen alles, was musikalisch ist.» Nun, die Sonate stellt nach wie vor eine große Herausforderung dar; sie als «Unwesen» anzusehen, ist jedoch längst obsolet. «Blutige Kämpfe» müssen allenfalls jene Pianisten austragen, denen es an technischen Fähigkeiten und geistigem Einfühlungsvermögen mangelt. Nicht so Dénes Várjon. Wie auf dem Seziertisch dringt er in das von schillernden Metamorphosen eines Leitmotivs beherrschtes Innenleben der Sonate ein. Die Ausdrucksebene wird dadurch nicht beeinträchtigt, ja, die visionäre Kraft der h-Moll-Sonate kommt durch Várjons kühl-rationale Abfederung erst voll zur Geltung.

Egbert Hiller