Uzor, Charles

Quartets / Quintet

Verlag/Label: NEOS 10714
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/02 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4
 

Wie für so viele Komponisten seiner Generation ist auch für Charles Uzor (geb. 1961) das «anything goes» inzwischen zu einer kompositorischen Selbstverständlichkeit geworden und vor allem strukturell in Fleisch und Blut übergegangen. Die Musik des in der Schweiz lebenden Nigerianers verwendet eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken, Klangformen und Ausdrucksgesten, ohne dass hier postmoderne Stil-Collagen am Werk wä­ren, die mit vordergründiger Buntscheckigkeit nerven. Selbst Afrika ist in Uzors melodiegetränkter Gedankenfülle eher fern und nur unterschwellig wirksam, als dass hier weltmusikalisch angehauchte Synthesen hörbar wären. Vielmehr mutet diese in ihrem individuellen Ablauf prinzipiell unberechenbare Gemengelage manchmal an, als würden sich Debussy (Harmonik), der frühe Schönberg (expressive Gestik) und Morton Feldman (Struktur) ein illustres Stelldichein geben.
«a chantar m’er de so q’ieu no vol­dria» (Ich werde singen, was ich nie hätte singen wollen) für Klarinette, Streichquartett und Tape (2004/05) ist so ein ausgeprägt melodisches «Patchwork» zwischen allen Zeiten und Stühlen, das stets nach ein paar homogenen Takten wieder zu anderen ästhetischen Ufern aufbricht und dabei besonders auf die Musik Guillaume de Machauts abhebt. «In allen drei Stücken ist die Melodie die tröstende Hand, die vielleicht dem heiligen Antonius die Oase der Ruhe war. Wie seine Wahrnehmung, erschüttert vom Aufprall mit dem Ich, wieder zurück zum Wahrnehmungsinhalt wanderte, wandern die Melodien von Machaut zu mir und vielleicht zurück – mehr melodische Masse als Zitat, mehr Parodie als Bearbeitung», sinniert Uzor über den «kantablen» Geist dieser Kammermusikwerke. Am stärksten wird das im lyrisch-expressiven Schluss­satz des Klarinettenquartetts spürbar, aber auch die zahlreichen ostinaten Rhythmusbewegungen treiben zuvorderst melodisches Material voran, und selbst in von Glissandi und Mikrotonalität dominierten Abschnitten ist unter der Farbschicht immer auch ein Quantum «Gesang» spürbar. Besonders eindringlich wird Uzors Fähigkeit, hybride Klangsphären zu erzeugen, im zweiten Satz, wo vogelartige Schreie von einem papuanischen Initiationsritus vom Band sich über elegische Instrumentalstimmen legen.
Andernorts holt sich Uzor noch konkreter Dichtung ins Werk: in Shakespeare’s Sonnet 65 für Streichquartett und Tape (2001/02) zum Beispiel, ein historischer Klangraum zwischen Renaissance und Minimal, wo die Zweite Wiener Schule ebenso herauftönt wie Feldman oder (fast schon unvermeidlich in folkloristischen Allu­sionen) die Quartette Bartóks. Etwas gewöhnungsbedürftig nur jene Passagen, die mit relativ hölzernen Rezitationen aufwarten, die kontextuell nur dann nicht in der Luft hängen, wenn sie sich im Flüsterton ins instrumentale Geschehen mischen.
Reichlich alte Musik durchweht auch das Gitarrenquartett «qui ainsi me refait … veoir seulement» (2003), das zunächst melancholisch auf der Stelle klimpert, bevor es erneut die Musik Machauts heraufbeschwört, durch gezielte Skordaturen jedoch die Grenzen zwischen falschen und richtigen, alten und neuen Tönen zerfließen lässt.

Dirk Wieschollek