Herbert, Matthew

Recomposed Mahler

Symphony X

Verlag/Label: Deutsche Grammophon 00602527344386
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Die ersten Sekunden von Matthew Herberts Neuadaption von Gustav Mahlers 10. Sinfonie haben nicht viel mit dem Original gemeinsam. Man hört Vögel, Menschenstimmen, Dielen und Holztüren quietschen, während im Hintergrund der Wind rauscht. Nach einiger Zeit mischt sich unter die Feldaufnahmen ein tiefer Bordunton. Dann erklingt ein Bratschensolo. Mahlers 10. Sinfonie wird bei Herbert zunächst zu einem Konzert für Bratsche. Erst danach beginnt der britische Musiker mit Versatzstücken aus dem Adagio des Werks zu arbeiten. Er greift auf Aufnahmen zurück, die der italienische Dirigent Guiseppe Sinopoli für seinen Mahler-Zyklus eingespielt hat. Herberts Umgang mit diesem Material ist sehr behutsam; nur selten verfremdet er den Orchestersound mit elektronischen Eingriffen.
Im Vordergrund seiner Arbeit steht die Erzeugung atmosphärischer Eindrücke. Herbert verlängert einzelne Abschnitte des Adagios, gibt ihnen mehr Zeit zur Entfaltung, steigert ihre Dramaturgie und verräumlicht bestimmte Motive durch Hallfahnen. Mit diesen Mitteln möchte er das melancholische Moment der Kom­position betonen. Mahler litt unter Liebeskummer, als er an der Zehnten arbeitete, denn seine Frau Alma hatte ihn wegen des berühmten Bauhaus-Architekten Walter Gropius verlassen. Er starb, bevor er die 10. Sinfonie beenden konnte. Seitdem haben viele Dirigenten und Musikwissenschaftler versucht, das Werk aus den Skizzen, die der Komponist hinterlassen hat, zu rekonstruieren. Matthew Herbert geht einen Schritt weiter. Er möchte Mahlers persönliches Erleben in seiner Bearbeitung reflektieren, er versucht die Verzweiflung des Komponisten und sein Ringen mit dem Tod darzustellen. Die beklemmende Stimmung in Mahlers Arbeitszimmer macht Herbert mit unterschiedlichen Raumeffekten deutlich, die er über einzelne Partien des Adagios legt – die Musik wirkt hier klaustrophob. Das einleitende Bratschenmotiv ließ er am Grab von Mahler in Wien einspielen. Weitere Teile der Sinfonie wurden in einem Sarg oder über die Lautsprecher eines Krematoriums aufgenommen.
Die Ideen Herberts sind originell, sie zeigen seinen erfinderischen Geist und demonstrieren seine Fantasie. Ein musikalisches Thema wird von ihm nicht nur unter klanglichen Gesichtspunkten durchdrungen, sondern auch theoretisch erfahrbar gemacht. Ein Problem dabei ist allerdings, dass sich diese theoretischen Bezüge musikalisch nur erschließen, wenn man über die entsprechenden Vorinformationen verfügt. Als akustischer Kommentar zu Gustav Mahlers Seelenleben macht Herberts Beitrag somit nur auf dem Papier Sinn. Die Musik bietet allerdings genügend Eindrücke, so dass sie kein konzeptuelles Theoriengeflecht be­nötigt, um interessant zu sein.

Raphael Smarzoch