Scodanibbio, Stefano

Reinventions für Streichquartett

Verlag/Label: ECM New Series 2072
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5


Als einer der herausragenden Kontrabassisten seiner Zeit erschloss der Italiener Stefano Scodanibbio einem solistisch eher stiefmütterlich behandelten Instrument ganz neue Perspektiven. Leider muss man hier bereits die Vergangenheitsform wählen, denn der experimentierfreudige Komponist und Instrumentalist, für den alles schrieb, was in der neuen Musik Rang und Namen hat, starb vergangenes Jahr im Alter von 56 Jahren.
Auch sein Komponieren reflektierte einen weiten musikalischen Horizont zwischen Improvisation, außereuropäischer Musik und Avantgarde. Scodanibbios zwischen 2004 und 2009 komponierte Reinventions bringen Musik denkbar unterschiedlichster Herkunft als Bearbeitungen für Streichquartett zusammen: Bachs Kunst der Fuge, spanische Gitarrenklänge und mexikanische Lieder. Dass diese auf den ersten Blick inkommensurable Zusammenstellung wunderbar funktioniert, liegt daran, dass hier keine schalen Instrumentationen als Crossover-Mogelpackung feilgeboten werden, sondern Scodanibbio seine ganze Musikerpersönlichkeit in dieses ‹Neuerfinden› hineingebracht hat.
Seine «Kunst der Fuge» (Contrapunc­tus I, IV, V) sticht aus dem Heer der Einrichtungen als intime Zwiesprache mit dem Original heraus, die das kontra­punktische Gewebe durch einen Reichtum an Obertönen, Mikrotonalität, subtile Dissonanzen, überraschende Oktavierungen und Transpositionen und dezenten sul ponticello- und sul tasto-Einsatz in eine unwirkliche Traumsphäre rückt. Das radikal langsame Tempo tut sein Übriges (Viertel = 40!), was am Anfang gewöhnungsbedürftig ist, am Ende jedoch als essenziell für die schattenhafte Zerbrechlichkeit dieser Zeitlupen-Polyphonie wahrgenommen wird.
Auch die Quattro Pezzi Spagnoli (2009) nach Gitarrenmusik von Francisco Tárrega, Miguel Llobet, Dionisio Aguada und Fernando Sor und die Canzoniere messicano (2004/09) zeigen deutlich die Handschrift des Italieners und tragen an keiner Stelle zu dick auf. Populäre mexikanische Lieder wie Bésame mucho verwandeln sich so in kammermusikalische Kleinode.
An diesem anrührenden Vermächtnis hat das mit großer Ruhe und Sensibilität agierende Quartetto Prometeo größten Anteil. Der New Series-typische Dialog von alter und neuer Musik könnte kaum sprechender in Erscheinung treten als hier.

Dirk Wieschollek