Holliger, Heinz

Romancendres | Chaconne | Feuerwerklein | Partita

Verlag/Label: Genuin GEN 14330
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

«Frau Schumann hat erst vor ein paar Wochen ein Heft Cellostücke von Schumann verbrannt, da sie fürchtete, sie würden nach ihrem Tode herausgegeben werden. Mir hat das sehr imponiert», bekannte Brahms 1893 dem Wiener Musikkritiker Richard Heuberger. Die zündelnde Besorgnis Clara Schumanns erscheint uns Nachgeborenen eher befremdlich. Zumal die Fünf Romanzen für Violoncello und Klavier vierzig Jah­re zuvor Joseph Joachim und seine Freunde begeistert hatten: «Sehr ha­ben uns auch die Romanzen erlabt», schrieb der Geigenvirtuose 1853 an Schumann. «Die dritte davon mit der tiefsinnigen Melodie und dem kontrastierenden, lebhaft schalkischen Trillersatze mussten wir unwillkürlich noch einmal spielen, wie den feierlichen A-Dur-Satz der letzten, und überhaupt alles mehrere Male.»
Mit einem «allgemeinen Schütteln des Kopfes» über die Willkür der Witwe gab sich der schweizerische Schumann-Verehrer Heinz Holliger allerdings nicht zufrieden. Ihn in­spirierten die verglühten Romanzen 150 Jahre nach ihrer Erschaffung und 110 Jahre nach ihrer Einäscherung zu einem sinnreichen Memento: Romancendres. Holliger hat dem Zyklus nicht nur die Tatumstände der Quellenvernichtung eingewoben. Das Werk birgt auch eine Vielzahl tönender Hinweise auf Schumanns Le­ben und Werk. Die Überschriften der sechs Sätze, wörtlich oder sinngemäß Schumanns Schriften entnommen, verweisen auf verrinnende Lebenszeit, Verlöschen und Tod: Kondukt I (C.S. – R.S.), Aurora (Nachts), R(asche)S Flügelschlagen, Der Würge­engel der Gegenwart, heiter bewegt (Es wehet ein Schatten darin), Kondukt II (Der bleiche Engel der Zukunft).
Die beiden Kondukte sind rituelle Trauermärsche. Die Rhythmen des ersten gründen auf den Lebensdaten der Ehepartner, die des zweiten beziehen Johannes Brahms mit ein. Der Finalsatz beschwört zudem Grabmale und Grabinschriften in einem Choral, «der bis zur scheinbaren Auflösung der Zeit in unendliche Langsamkeit zerfällt» – ein Eindruck, dem das Duo verzweifelt nahe kommt. Das «rasche Flügelschlagen» spiegelt den Überschwang der frühen Ehejahre, lässt aber auch die erschlaffende Liebe ahnen. Wobei der Pianist das Flügelschlagen ganz handgreiflich auf den Flügel-Saiten vollführt.
In der dritten Romanze, rasch und «mit Feuer» vorzutragen, scheint Schumann von Wahnvorstellungen «gewürgt». Der Schatten, der die heiter bewegte vierte streift, rührt von Brahms her. Das tiefe B verweist
zugleich auf das «Brandopfer». Wie sich Leben und Werk der Protago­nis­ten Robert, Clara und Johannes verschränkten, so verfransen sich die Stimmen von Cello und Klavier.
Biografisch bedingt, symbolträchtig komponiert und wirkmächtig dargeboten sind auch das pianistische Feuerwerklein (2012 zum 70. Geburtstag des Schott-Verlagsdirektors Peter Hanser-Strecker), die Chaconne für Solocello (1975 zu Paul Sachers 70. Geburtstag) und die Bach, Schumann und Liszt huldigende Partita, die Holliger dem ungarischen Pianisten András Schiff 1999 widmete.

Lutz Lesle